Autoren-Tipp: Die Grundlagen des Erzählens oder: Wie ich letzten Sommer von einer Ente attackiert wurde

Beginner's luck

Es gibt zwei Arten von Romanen. Solche, die vor allem eine Geschichte erzählen wollen. Und solche, bei denen die Geschichte Nebensache ist. Letztere nennt man gelegentlich »anspruchsvolle Literatur« – »Literaturbetriebsliteratur« nennt sie mein Agent. Ich nenne sie falsch etikettiert. Ein Roman, der keine Geschichte erzählt, ist keiner. Überlassen wir sie dem Feuilleton und kümmern uns um das, was unsere Leser lieben sollen: um Geschichten und die Charaktere, von denen wir erzählen wollen.

Mit Erschrecken und mit Erstaunen stelle ich bei meinen Romangutachten immer wieder fest, dass viele Autoren gar nicht wissen, was überhaupt eine Geschichte ist. Aber auch erfahrenen Autoren kann es einen kreativen Schub und Schubs verleihen, wenn sie sich dann und wann an das Fundament erinnern, auf das sie ihre Geschichte bauen.

Ein amerikanischer Kollege hat das Wesen einer Geschichte sehr anschaulich erklärt. Als Lehrer hatte er seinen Schülern nach den Ferien die übliche Aufgabe gegeben: »Schreibt auf, was ihr in den Ferien erlebt hat.« Die Ergebnisse waren vorhersehbar langweilige Episoden über Ausschlafen, ins Schwimmbad gehen, zelten. Eines Tages aber kam der Lehrer auf die Idee, die alles veränderte. Er formulierte seine Frage um: »Schreibt auf, was in euren Ferien schiefging

Auf einmal inspiriert, produzierten die gelangweilten Fünftklässler Anekdoten, die in der Bandbreite alles aufwiesen, was man von einer guten Geschichte erwartet: Emotionen, Drama, Witz und Leidenschaft, eine Handlung, eine Dramaturgie. Da wurde von Kissenschlachten erzählt, die ein ganzes Zimmer zerlegten, von abbrechenden Ästen und schreienden Stürzen in eiskaltes Wasser. Autoreifen quietschten, Stewardessen schrien und einem dicken Mann platzte mitten im Restaurant die Hose. Die Kinder, die bislang den Geschichten ihrer Mitschüler mit sackenden Augenlidern und zum Gähnen oder Quasseln aufgerissenen Mündern gelauscht hatten, hörten auf einmal still und gebannt oder auch mal kichernd zu. Aber sie hörten zu.

Muss in einer Geschichte also immer etwas schiefgehen? Nicht unbedingt. Nehmen wir das Beispiel mit dem Sturz in eiskaltes Wasser.

Der Zweitklässler Niko balanciert auf einem Baumstamm über einen Bach. Am Ufer stehen seine Freunde und schreien und bewerfen ihn mit Matsch, Hauptsache, Niko klatscht ins Wasser und liefert ihnen eine Show. Immer wieder rutscht Niko aus, er wird von Dreckklumpen getroffen, sogar eine um ihre Brut im Ufergras besorgte Entenmutter attackiert ihn. Aber Niko schafft es gegen alle Widrigkeiten trockenen Fußes ans Ende des Baumstamms, ans andere Ufer.

Die Geschichte hat dennoch gleich mehrere Aspekte, die sie zur Geschichte machen.

  1. Niko hat ein Ziel. Er will ans andere Ufer. Und wir Leser können verstehen das Ziel und können genau erkennen, ob er es erreicht.
  2. Je mehr ihn seine Freunde verspotten, desto stärker wird sein Wunsch. Dadurch wird uns Niko sympathisch: Er kämpft für sein Ziel. Und wir feuern ihn in Gedanken an, identifizieren uns vielleicht sogar mit ihm. In jedem Fall können wir uns in ihn hineinversetzen, sind empathisch.
  3. Niko setzt etwas aufs Spiel: Er könnte klatschnass werden, sich vielleicht sogar wehtun. Und er würde die nächsten Tage immer wieder wegen seines Sturzes verspottet werden.
  4. Niko muss Hindernisse überwinden: den Spott, den Matsch, die Ente.
  5. Die Hindernisse nehmen an Bedrohlichkeit zu: erst Spott, dann Matsch, dann die Ente. Auf Deutsch: Es gibt eine klare Eskalation.
  6. Die Geschichte enthält eine Überraschung. Denn der Leser oder Zuhörer rechnet damit, dass Niko ins Wasser fällt. Denn wie jeder von uns zumindest instinktiv weiß, gehört das Schiefgehen zu einer Geschichte. Wir erwarten das Misslingen. Hier überrascht uns hingegen das Gelingen. Und genau das kann ebenfalls eine Geschichte ausmachen: dass etwas auf überraschende, unerwartete Weise gelingt.

Etwas Entscheidendes aber fehlt der Geschichte noch: ein für den Leser oder Zuhörer befriedigendes Ende. Das Ende hängt auch von den Erwartungen ab und damit, bei Romanen, vom Genre. Sprich: Genreleser erwarten bei einer Liebesschnulze ein Happy End, bei einem Horrorroman ein Ende, bei dem das Grauen noch weiterwirkt … Und was erwarten die Kids bei einer lustigen Story über ihre Ferien? Wie wäre es damit:

Niko kommt sicher auf der anderen Seite an. Er verbeugt sich spöttisch zu seinen Klassenkameraden. Darauf aber hat die Ente nur gewartet. Sie fegt schnatternd von hinten heran. Niko erschrickt sich so, dass er nach vorne stolpert, nur weg von dem Federviech – und ins Wasser klatscht.

Sie sehen, eine funktionierende Geschichte zu erzählen, ist ganz einfach – und zugleich das Schwerste auf der Welt. Wann immer Sie im Zweifel sind, ob Sie mit Ihrem Roman noch auf dem richtigen Kurs steuern, treten Sie auch mal einen großen Schritt zurück und fragen Sie sich, ob Sie diese Basics mit den aktuellen Szenen noch erfüllen. Im Zweifel lassen Sie einfach noch etwas schiefgehen.

Stephan Waldscheidt

Schriftsteller & Skriptdoktor. Autor einer erfolgreichen Reihe von Autoren- und Schreibratgebern. Berät Romanautoren persönlich oder in Workshops übers Schreiben und Veröffentlichen. Schreibt als Paul Mesa selbst Romane.

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