Autoren-Tipp: Wie kommt Spannung in eine Geschichte?

Im Literarischen Salon in Hannover kritisierte ein Gast letztens, dass Self Publisher offenbar nur am Geld interessiert seien – und kaum an der sprachlichen Qualität ihrer Arbeit. Oder wie sei der typische Inhalt der Beiträge in der Selfpublisherbibel sonst zu interpretieren? Der Mensch hat Recht. Es gibt auch Themen abseits von Honoraren und Tantiemen, die spannend sind.

Deshalb nun der erste Gastbeitrag von Karla Schmidt zum Thema “Wie kommt Spannung in eine Geschichte?”

Ich habe gerade den Roman Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie gelesen. Ach was – verschlungen! In zwei Tagen waren die knapp 600 Seiten, die derzeit als große Weltliteratur gehandelt werden, ausgelesen.

Hm, Weltliteratur … sind das nicht eigentlich die „anstrengenden“ und „unspannenden“ Bücher? Americanah las sich jedoch geradezu soghaft. Ständig wurde ich mit neuen Emotionen und Gedanken konfrontiert. So habe ich die Welt noch nie zuvor gesehen! Und die Geschichte dazu, die war einfach verdammt spannend.

Doch was ist Spannung, wie entsteht sie? Ist die Spannung in einem kranken Psychothriller, einem klassischen Ermittlerkrimi, einer Lovestory, einem Abenteuerroman oder in sogenannter Weltliteratur immer dieselbe? Oder gibt es Wesensunterschiede, je nachdem, in welchem Genre man schreibt?

Inszenierte Unsicherheit

Das englische Wort für Spannung ist „suspense“, was aus dem Lateinischen kommt und „aufhängen“ bedeutet. Spannung zu erzeugen bedeutet buchstäblich, Leser hängen zu lassen. Man bringt liebgewordene Figuren in eine unhaltbare Situation und lässt offen, wie sie ausgehen wird. Das erzeugt eine Mischung aus Hoffnung und Angst, auch „Angstlust“ genannt. Man braucht für Spannung also zunächst diese zwei Bestandteile:

Erwartung, dass etwas bestimmtes (Gutes oder Schlimmes) geschehen wird.

Zweifel, ob das Erwartete eintreffen wird, oder ob durch unvorhersehbare Umstände etwas anderes eintritt.

Spannung ist ein ineinander geschachteltes System von Erwartung, Überraschung, Zweifel und Erfüllung. Im Prolog des Thrillers Kind44 von Tom Rob Smith sieht das so aus:

1. Anspannung – Erwartung auf ein künftiges Ereignis wird geweckt: Winter irgendwo in Russland, Hungersnot. Pavel und Andrej haben im Wald eine Katze gefangen. Doch es ist noch jemand im Wald, ein Mann. Er wird den Kindern die Beute wegnehmen!

2. Überraschung: Die Erwartung erfüllt sich nicht so, wie gedacht, plötzlich erscheint auch eine andere Entwicklung möglich: Momentder Mann hat es gar nicht auf die Katze abgesehen. Er hat es auf Pavel abgesehen! Er will den Jungen fressen!

3. Zweifel/neue Erwartung: Er wird doch nicht etwa Pavel erwischen?!

4. Lösung der Spannung: Entweder die ursprüngliche oder die neue Erwartung erfüllt sich: Doch, der Mann erwischt Pavel!

Natürlich wird offengelassen, was nun genau mit Pavel geschieht. Smith springt in Andrejs Perspektive. Er hat im Kampf mit der Katze seine Brille verloren und ist extrem kurzsichtig. Es wird sofort eine neue Spannungskurve in Gang gebracht:

1. Anspannung: Andrej tappt durch den Wald, ohne zu wissen, was geschehen ist. Er verirrt sich bestimmt, und bestimmt findet er Pavel nicht, so kurzsichtig, wie er ist…

2. Überraschung: Doch, er findet den Baumstamm, wo Pavel zuletzt gewesen ist! Eine kleine Hoffnung keimt auf. Doch der Schnee ist blutig. Und Pavel ist fort.

3. Zweifel/neue Erwartung: Findet Andrej wenigstens die von Pavel flüchtig verscharrte Katze, so kurzsichtig, wie er ist? Und findet er nach Hause?

4. Lösung der Spannung: Nein, er findet die Katze nicht …

Hier endet die Szene. Ob Andrej nach Hause findet, bleibt offen. Eine neue Szene an einem neuen Schauplatz mit neuen Figuren beginnt. Smith lässt den Leser also erst einmal hängen, die Spannung bleibt über das Ende der Szene hinaus erhalten.

Auf genau diese Weise hangeln sich Thriller immer weiter voran, von einem Bogen zum nächsten. Manchmal ist die Spannung stärker, manchmal schwächer, damit man auch mal verschnaufen kann. Dasselbe Prinzip gilt jedoch für jede Geschichte: Die Spannung wird mit Hilfe kleiner, ineinandergeschachtelter Bögen immer auf einem Niveau gehalten, das Leser zwingt, umzublättern und weiterzulesen. Bei temporeichen Thrillern sind solche kleinen Spannungsbögen oft nur drei bis fünf Seiten lang, in anderen Genres sind sie meist weiter gespannt.

Braucht Spannung immer eine konkrete Bedrohung?

Im Thriller ist es offensichtlich: eine Figur wird bedroht und man hofft und bangt, ob sie dieser Bedrohung entkommen kann.

Doch was ist mit dem Roman Americanah? Dort werden weder Katzen noch Kinder gegessen, es ist nicht bitterkalt, niemand wird gejagt, und die Figuren sind nur selten in akut bedrohlichen Situationen.

Der Roman erzählt sehr alltagsnah von der jungen Nigerianerin Ifemelu, die in die USA geht um zu studieren. Sie erlebt dort einen entbehrungsreichen und demütigenden Anfang, bringt es aber mit den Jahren zur erfolgreichen Bloggerin zum Thema „Rassismus“, zur Eigentumswohnung und einer festen Liebesbeziehung mit einem Akademiker. Alles gut, könnte man meinen.

Obinze hat, nachdem Ifemelu trotz ewiger Liebesschwüre den Kontakt zu ihm abgebrochen hat, eine Weile als illegaler Immigrant in London gelebt. Er wurde erwischt und abgeschoben. Doch auch er zieht sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf: Mittlerweile lebt er wieder in Lagos, ist Vater und verheiratet und durch nicht ganz koschere Immobiliengeschäfte schwerreich geworden. Ebenfalls alles gut, oder?

Doch etwas fehlt im Leben, und eines Tages lässt Ifemelu alles stehen und liegen und kehrt nach Nigeria zurück. Dort trifft sie ihre Jugendliebe Obinze wieder. Wie entsteht in einem solchen Szenario die Spannung?

Konflikte müssen nicht immer mit Explosionen und existentiellen Bedrohungen einhergehen. Es gibt auch leise Konflikte, mit ebenso drängenden Schwebezuständen und offenen Fragen, auf deren Antwort man beim Lesen hinfiebert. Diese offenen Fragen betreffen dann weniger das physische Überleben, sondern mehr die emotionale Unversehrtheit der Figuren. Einfacher gesagt: Werden die Figuren durch ihre Handlungen glücklicher oder unglücklicher?

Wird Ifemelu sich ihr schwarzes, afrikanisches Kraushaar glätten lassen, um den Job zu bekommen? Wird sie den Tennislehrer befriedigen, um die Miete für ihr schimmeliges Studentenzimmer zahlen zu können? Wie weit ist sie bereit sich zu demütigen, um endlich auf einen grünen Zweig zu kommen? Wird sie jemals auf Obinzes verzweifelten Anrufe und Emails reagieren? …?

In jeder Art von Literatur, in jedem Genre entsteht Spannung aus der Vorahnung darüber, wie die Konflikte in einer Geschichte sich entwickeln werden. Damit Leser ein Ereignis erwarten, erhoffen oder befürchten können, muss ein spannender Text ein wenig Vorwissen vermitteln:

Leser müssen wissen, welches Ereignis denn wünschenswert wäre und welches nicht. In Americanah gehen zwei Liebende auseinander und verfolgen ihren jeweils eigenen Weg. Jeder geht durch sein eigenes Jammertal und ersteigt durch zunehmende Anpassung an „die Verhältnisse“ seine eigenen Karrieregipfel. Und je besser es Ifemelu und Obinze im Leben ergeht, desto mehr fürchtet man, dass sie sich niemals wiederfinden werden. Für Leser ist ganz klar: Erfolg, Geld, Etappensiege gegen amerikanischen Rassismus und nigerianische Korruption sind schön, gut und wichtig. In Amerianah geht es um einen neuen Blick auf die Welt. Das beschert Aha-Momente und Staunen. Doch daher bezieht der Roman nicht seine größte Spannung, sondern aus dem eigentlichen, dem emotionalen Ziel: Ifemelu und Obinze sollen einander bitte wiederfinden! Es ist die große, unkonventionelle Liebesgeschichte, die Americanah so spannend macht.

Spannung entsteht – sei es im Thriller oder in der „Weltliteratur“ – wenn Leser die emotionalen Konflikte der Figuren miterleben können. Wenn es um etwas für sie Großes und Wichtiges geht, auch wenn sie – im Gegensatz zum Leser – manchmal selbst noch gar nicht wissen, was denn das Große und Wichtige in ihrem Leben ist.

Je größer die Bedrohung des emotionalen Ziels, je mehr für die Figuren auf dem Spiel steht, desto intensiver wird auch die Spannung. Als Leser sieht man dann in hilfloser Erregung, welche (Fehl-)Entscheidungen eine Figur trifft und beginnt, mit ihr mitzufühlen.

Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Figuren sympathisch und dass ihre Ziele gerecht und nachvollziehbar sind. Man muss hoffen dürfen, dass sie sie erreichen. Wenn es dabei ums nackte Überleben geht, ist fast jedes Mittel recht. Sogar, eine Katze zu essen. Wenn es dabei an der Oberfläche um „Anpassung und Karriere“ geht, das wahre, emotionale Ziel jedoch „Authentizität und Liebe“ heißt, dann entsteht die Spannung daraus, dass man wartet, bangt und hofft, wann die Figuren das erkennen werden.

Wenn Leser das Gefühl haben, dass eine sympathische Figur auf jeden Fall zu Schaden kommen wird, so steigt die Spannung noch einmal: Pavel wird geschnappt und gegessen! Ifemelu wird den Tennislehrer befriedigen, und sie wird so sehr unter ihrem Selbstekel leiden, dass sie etwas Dummes tut, das nicht mehr rückgängig zu machen ist. … Das funktioniert in jeder Art von Literatur. Wichtig ist nur, dass eine Ahnung nicht zu früh zur Gewissheit wird, denn durch Gewissheit wird Spannung aufgelöst. Der Schwebezustand zwischen Hoffen und Bangen ist dann nicht mehr gegeben.

Im Verlauf einer Geschichte steigt die Spannung auch dann, wenn die Erfolgsaussichten immer weiter dezimiert werden: Je mehr Ifemelu und Obinze ihr eigenes Leben in Ordnung bringen, desto geringer wird die Aussicht, dass sie füreinander noch einmal alles aufgeben werden. Ebenso wichtig ist jedoch, dass immer ein (möglichst kleiner) Funken Hoffnung auf einen guten Ausgang bleibt.

Und zum Schluss nochmal in kurz und knackig – Spannung wird umso größer:

  • je geschickter offene Fragen in der Schwebe gehalten werden.
  • je deutlicher ist, welcher Ausgang einer Situation/Geschichte wünschenswert wäre und welcher katastrophal.
  • je mehr eine Figur zu verlieren hat, wenn sie in der betreffenden Situation/Szene/Geschichte scheitert. Das betrifft die kleinen Spannungsbögen ebenso wie den großen Bogen eines ganzen Romans.
  • je sympathischer sie ist.
  • je erstrebenswerter ihr Ziel erscheint.
  • je größer die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ist.
  • je geringer die Aussicht auf Erfolg.
  • je mehr die Kraft der Figur bei gleichzeitig verstärkter Bedrohung schwindet.
  • Dabei kommt es nicht darauf an, dass eine Bedrohung oder ein Konflikt möglichst laut und zerstörerisch ist, sondern auf seine emotionale Bedeutung für die Figuren und damit auch für Leser.

Karla Schmidt lektoriert und unterrichtet an der Hamburger Akademie für Fernstudien in der Roman-Werkstatt. Als Autorin veröffentlicht sie in verschiedenen Genres – von SF über Thriller bis hin zu mehr literarischen Texten. 2009 erhielt sie den Deutschen Science Fiction Preis für die beste Erzählung. Ihre aktuellen E-books:

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