Autoren-Tipp: Wo König Zufall regiert und es Zeit wird für einen Umsturz

Zufall

(Die gefährlichsten und häufigsten Fehler beim Schreiben eines Romans – Erkennen, beheben, vermeiden, Teil 3)

Das Leben ist eine Kette von Zufällen, stimmt’s? Vielleicht sind Sie der Ansicht, dass es von einem höheren Wesen bestimmt wird? Von der Konstellation der Sterne? Was liegt näher, als das – nennen wir es neutral – Schicksal auch in Ihrem Roman wirken zu lassen? Sollte ein Roman dadurch nicht realistischer werden? Oder mehr noch: Sollte Ihr Roman das Wirken des Schicksals nicht sogar zwingend brauchen?

So logisch der Gedanke klingt, so falsch und zugleich fatal wirkt er sich auf Ihren Roman aus. König Zufall ist kein guter Herrscher.

Ein Beispiel. Kommissar Glowatzki ermittelt den Mord an Linda K. Er geht Hinweisen nach, befragt Zeugen und Tatverdächtige, sammelt Informationen. Da stolpert er in der Asservatenkammer über einen nicht weggeräumten Karton. Als er ihn ins Regal stellen will, fällt er ihm herunter – und heraus kullert ein Briefbeschwerer. Mit einem Briefbeschwerer der gleichen Serie wurde Linda K. erschlagen! Der Briefbeschwerer hier gehörte einem ehemaligen Tatverdächtigen für den Mord an Germano B., Samuel Collenbusch. Collenbusch wurde damals aus Mangel an Beweisen nicht angeklagt. Doch jetzt kann Glowatzki ihn, dank des neuen Hinweises, als Mörder von Linda K. überführen.

Realistisch, oder? Keine Hexerei im Spiel, kein brennender Dornbusch, einfach ein bisschen Glück, sprich: Zufall, sprich: Schicksal. Warum sind solche Zufälle dennoch eine schlechte Idee?

1. Der Zufall ergibt sich nicht schlüssig aus anderen Ereignissen. Daher fügt er sich nicht organisch in die Geschichte ein und wirkt wie absichtlich platziert.

Bessere Variante: Glowatzki sucht gezielt nach Käufern von Briefbeschwerers besagter Sorte. Seine Ermittlungen führen ihn dann zu Collenbusch.

2. Der Leser erkennt das Wirken des Autors. Dadurch wird er aus der Geschichte gerissen. Der Autor lässt den Zufall geschehen – genau an der Stelle und auf die Weise, die ihm in den Plotkram passt.

Hier haben wir das zentrale Problem des Zufalls im Roman: Anders als im Leben, wo wir nicht wissen, wer unsere Geschicke lenkt, entlarvt der Leser im Roman sofort den Verantwortlichen: den Autor. Für den Leser ist das unbefriedigend, denn die Geschichte wirkt nicht mehr in sich geschlossen.

Das ist vor allem bei Romanen ein Problem, die den Leser tief in die Ereignisse hineinziehen – Genreliteratur oder Belletristik. Distanziertere Romane, die eher den Intellekt ansprechen, wie Satiren oder das, was in Deutschland als seriöse Literatur verkauft wird, können solche Zufälle besser verkraften.

3. Das heißt keineswegs, dass Sie den Zufall auch aus Ihrem Genretext ganz verbannen müssen. Aber es gibt Ereignisse, die der Leser als Zufall akzeptiert und solche, die er eher ablehnt.

Grundsätzlich dürfen Sie so viele Zufälle oder Schicksalsschläge auf den Protagonisten regnen lassen, wie Sie nur wollen – sofern diese ihm beim Erreichen seines Ziels behindern. Das kann ein Unwetter sein, das einen Weg für den Helden unpassierbar macht, oder die Begegnung mit einer alten Schulfreundin, die die Protagonistin lange genug unaufmerksam macht, sodass der Killer unbemerkt aus dem Café entkommen kann. Das können Unfälle sein, Rückschläge, Schicksalsschläge jeder Art.

Für alles aber, was ihm weiterhilft – wie im Beispiel der zufällig entdeckte Briefbeschwerer –, sollten Sie einen oder mehrere der folgenden Punkte berücksichtigen:

Die Hilfe …

  • ist organisch in die Handlung eingebunden;
  • ergibt sich schlüssig aus der Handlung;
  • hat der Protagonist sich erarbeitet oder erkämpft;
  • kostet den Protagonisten etwas (je wichtiger die Hilfe, desto größer die Kosten oder das Opfer).

Wie könnte so ein organisch eingebundener Zufall aussehen? Glowatzki erhält eines Morgens in seinem Büro einen anonymen Anruf. Eine Frau sagt, er solle sich mal den alten Mordfall an Germano B. genauer ansehen. Das tut Glowatzki und findet Informationen über den Briefbeschwerer und einen Tatverdächtigen, Samuel Collenbusch.

Ja, das ist noch immer ein Zufall, allerdings einer, der sich schon relativ gut versteckt. Mit so etwas haben Sie bessere Chancen, beim Leser durchzukommen.

Noch besser aber ist es, wenn Sie die anonyme Anruferin in die Handlung integrieren und so den Anruf ebenfalls zu einem schlüssigen Ereignis machen. Das könnte hier bedeuten, dass die Anruferin, Sabina Warbeck, eine Freundin der ermordeten Linda K. ist, die sowohl Germano B. kannte als auch Collenbusch und nun einen Verdacht schöpft, sich aber vor Collenbuschs Rache fürchtet, der ja schon einmal der Polizei von der Klinge gesprungen ist.

Zufälle können Sie auch dazu nutzen, wenn Sie etwa eine Symbolik bewusst, aber unaufdringlich verstärken möchten. So könnte Schnee eine Rolle im Glowatzki-Roman spielen – als Schneekugel-Briefbeschwerer – und Sie lassen es an einer Stelle schneien.

Noch eine Art von Zufällen darf gerne in Ihren Roman: Zufälle, die, etwa als spezifisches Detail, den Text lebendiger machen, oder solche, die für Atmosphäre sorgen oder für mehr Lesevergnügen. Allgemein Zufälle, die nicht (wesentlich) in die Handlung eingreifen.

Übrigens: Der Zufall darf einem Autor noch auf eine andere Art zu Hilfe kommen: etwa bei der Suche nach Namen, Schauplätzen, Berufen, Interessen usw. Die Namen der Charaktere in meinem fiktiven Beispiel habe ich mir per Wikipedia herausgesucht, über die Funktion »Zufälliger Artikel«.

Stephan Waldscheidt

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