Entfesseln Sie die Power, die in jedem Ihrer Sätze steckt: Was Sätze und Straßen gemeinsam haben

Ein Text besteht für viele Autoren aus zwei Dingen: aus den Wörtern und aus der Geschichte, zu der sich die Wörter fügen. Mit Wörtern spielen sie herum, suchen das Passende für das, was sie ausdrücken wollen. Die Autoren machen sich Gedanken über die Geschichte oder, in einem Sachbuch, über das Thema und plotten und planen vor sich hin. Dabei vernachlässigen sie zwei Gestaltungsmittel, die sowohl stilistisch-sprachliche Macht haben als auch inhaltliche.

Sätze und Absätze.

Satzgestaltung? Satzbau? Das klingt so nach Grammatik. Viele denken dabei an Dinge wie »Ort vor Zeit« aus dem Englischunterricht oder an die Voraus- oder Nachstellung von Adjektiven in Fremdsprachen. Das Deutsche ist, was die Wortstellung im Satz betrifft, häufig freier, in unserer Sprache gibt es dazu nicht viele Regeln. Für Sie als Autor wird das Stilmittel »Satz« dadurch zu einem Spielmittel, einem Ort, wo Sie Ihre Fähigkeiten ausspielen und Ihre Texte stärker machen können.

Denken Sie im Folgenden nicht mehr an Grammatik. Denken Sie lieber ans Unterwegssein, ans Reisen, an lange Straßen und schöne Landschaften.

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Manche Autoren schreiben Sätze wie komplexe Autobahnkreuze, die sich ineinander verflechten und in verschiedene Richtungen ausfasern. Wie wir alle wissen, können solche Autobahnkreuze trotz ihrer Komplexität durchaus funktionieren. Mehr noch, manchmal scheint der Text solche Konstruktionen zu verlangen. In jedem Fall aber müssen wir uns als Autofahrer (respektive Leser), die wir ein Ziel ansteuern, stark konzentrieren, um den richtigen Wegweiser zu finden, uns auf der korrekten Spur einzuordnen und den Schildern zu folgen, die uns aus dem Tohuwabohu und schließlich zu unserem Ziel führen.

Anders bei einfachen Sätzen. Sie führen uns als gerade Straßen zu unserem Ziel: dem Ende des Absatzes, des Kapitels, der Geschichte.

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Während wir bei einem Autobahnkreuz permanent auf die Straße und auf die Hinweisschilder achten müssen, um nicht vom Weg abzukommen, erlauben uns gerade Straßen den Blick in die Landschaft ringsum. Für Leser heißt das: Ihnen fällt es einfacher, sich auf die eigentliche Geschichte einzulassen. Auf die, die sich in ihrem Kopf abspielt.

Je länger ein Satz wird, desto wichtiger wird seine Gestaltung. Das liegt daran, dass unsere Hirne kurze Sätze noch als Einheit wahrnehmen können: Sie lief über die Straße. Je konkreter, desto besser funktioniert das.

Schwieriger wird es bei Sätzen, die den Leser nicht nur mit einer Menge von Wörtern konfrontieren, sondern ihm auch noch inhaltliche Hindernisse präsentieren wie Erläuterungen, Widersprüche – wie in diesem Satz das Wort sondern –, eine Chronologie, eine Mehrzahl von Gedanken und Bildern oder gar eine komplette Handlung, all das verpackt in, durch Kommata oder Semikolons abgetrennte, Nebensätze oder Einschübe wie den weiter oben in diesem Satz.

Bei kurzen Sätzen ist die Reihenfolge der Wörter weniger wichtig. Vergleichen wir zwei Sätze aus David Pfeifers Roman »Die rote Wand« (Heyne 2015):

Nach zwei weiteren Stunden erreichte das Mädchen endlich die Anderter Alm.

Der Satz dürfte gerade noch als komplette Einheit erfassbar sein. Daher lässt er sich auch umstellen, ohne den Text davor und danach merklich zu beeinflussen:

Das Mädchen erreichte nach zwei weiteren Stunden endlich die Anderter Alm.

Schon komplizierter für die Aufnahme als Ganzes wird ein Satz, sobald Sie Hindernisse einbauen, etwa Kommas:

Endlich, nach zwei weiteren Stunden, erreichte das Mädchen die Anderter Alm.

Erinnern Sie sich an das Bild vom Satz als Straße. Sobald Sie ein Komma einfügen, sieht das für den Leser respektive Fahrer so aus:

Noch längere Sätze lassen sich kaum noch als Einheit erfassen. Statt einer gerade Straße hat der Fahrer respektive Leser jetzt eine Straße mit zahlreichen Hindernissen und Kreuzungen vor sich.

Wie etwa in diesem Satz, ebenfalls aus dem oben genannten Roman:

Die Äste der Bäume in der Umgebung, die noch nicht zum Heizen oder für den Barackenbau gefällt wurden, neigen sich, von der weißen Last beschwert, zu Boden.

In solchen und erst recht in komplexeren Satzkonstruktionen wächst der Stellung der Wörter eine weit größere Bedeutung zu. Dazu gehören Dinge wie Dramaturgie, Wendepunkte, räumliche und zeitliche Abfolgen, Blickführung, Priorisierung und Lenkung der Aufmerksamkeit.

Stephan Waldscheidt

 

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