Gestatten: Lecter, Psychiater, Feinschmecker, Kannibale – Charaktere einführen (Teil 3): Dynamisch und in Handlung

Bright flamy symbol on the black background

Im letzten Artikel haben wir uns angesehen, wie Thomas Harris in »Das Schweigen der Lämmer« den Charakter Hannibal Lecter statisch sowie mit einigen Informationen einführt. Geschickt gemacht, bringen Sie damit Ihre Romanfigur dem Leser schon recht nahe.

Noch deutlich einprägsamer wird ein Charakter, den Sie dynamisch einführen. Das kann seine Art zu sprechen sein, spezielle Gesten ebenso wie ein manisches Blinzeln. Dynamik heißt Bewegung, und wir Menschen sind von der Biologie so eingerichtet, dass wir Bewegtem unwillkürlich größere Aufmerksamkeit schenken als Ruhendem: Ein toter Säbelzahntiger zu unseren Füßen fesselt unsere Sinne weniger als ein lebendes Exemplar, das uns in den Weg springt und uns anbrüllt. Dynamisch hieß für unsere Vorfahren: bedrohlich.

Was die perfekte Überleitung für unseren Tischgast ist: Hannibal Lecter. (Alle Ausschnitte aus: THOMAS HARRIS, Das Schweigen der Lämmer, Heyne 1990/2006.)

Das Dynamische bei Lecters Einführung ist unter anderem dieser Satz:

Dann stand [Lecter] gemächlich auf und kam in seinem Käfig geschmeidig nach vorn.

Die Attribute gemächlich und geschmeidig sorgen nicht nur für eine bildliche Vorstellung beim leser, sie sagen ihm eine Menge darüber, was Lecter für ein Mensch ist. Das Geniale aber ist die unausgesprochene Assoziation, für die Thomas Harris hier sorgt. Durch die Paarung der beiden Wörter geschmeidig und Käfig weckt er im Leser unbewusst die Vorstellung von einem gefangenen Raubtier.

Dynamik finden Sie auch in diesen Sätzen aus Lecters Einführung:

Dr. Lecters Augen sind kastanienbraun, und sie reflektieren das Licht in Nadelspitzen aus Rot. Manchmal scheinen die Lichtpunkte wie Funken in sein Innerstes zu fliegen.

Achten Sie darauf, wie der Autor im ersten Satz mit einer statischen Beschreibung beginnt (»sind kastanienbraun«), um dann die Sache in Bewegung zu versetzen. Die Augen sind nicht mehr nur, sondern sie tun auch etwas: sie reflektieren das Licht. Aber wie sie das tun, gibt erneut Hinweise auf Lecters Charakter: in Nadelspitzen aus Rot. Wie schon oben bei der Raubtierassoziation zeigt auch hier die Wortwahl das Bedrohliche an, das von dem Mann ausgeht. Nadelspitzen! Und das Rot? Ist, in der Fantasie des Lesers, zweifellos ein saftiges Blutrot.

Der zweite Satz deutet die nächst höhere, weil intensivere Stufe von Charaktereinführungen und damit von Personenbeschreibungen an: eindringlicher als eine dynamische Beschreibung (»er bewegte sich wie ein Tiger im Käfig«) ist nur noch die Beschreibung, die Charaktereinführung über Handlung (»sie sprang ihn an wie ein Tiger und riss ihm mit ihren Klauen die Kehle auf«): Sie binden die Bewegung, die Dynamik in eine Aktion ein.

Das Erste, was uns der Autor von Lecter zeigt, ist dies:

Dr. Hannibal Lecter lag auf seiner Pritsche und blätterte in der italienischen Ausgabe der Vogue.

Nach all den langen Vorbereitungen, den schrecklichen Geschichten, die man von Lecter hören musste, bevor er selbst in Erscheinung trat, nach Clarice Starlings Spießrutenlauf durch den Zellenkorridor und der ungewöhnlichen Zelle, in die der Kannibale gesperrt ist, nach all dem bekommt man vom Autor einen Mann vor Augen geführt, der seelenruhig da liegt und in einer Modezeitschrift blättert.

Wow. So viel zu komplett zerschmetterten Lesererwartungen. Das Geniale daran: Dieses friedliche Bild, das so gar nicht in die Umgebung passen will, verrät uns mehr über Lecter, als es eine Einführung vermocht hätte, die uns den Mann unseren Erwartungen entsprechend präsentiert hätte: als haariges, schweißverklebtes Monster, das mit blutunterlaufenen Augen in einer Ecke kauert und eine Spinne von der Wand klaubt, um sie zu essen, nein: zu fressen.

Der Hannibal, den Thomas Harris uns zeigt, ist anders. Ganz anders. Und wird dadurch noch wesentlich faszinierender, noch deutlich gruseliger.

Und am gruseligsten dann der Satz:

Seine Augen erfaßten Starling ganz.

Eine Handlung, die sehr viel über Lecter aussagt. Nach all dem Vorwissen, dass man als Leser bis dahin von ihm gesammelt hat, weiß man, was dieser Satz bedeutet: Lecter prüft dich. Und er sieht einfach alles von dir, bis hinunter auf den Grund deiner Seele und die Dinge, die du dort versteckt hältst. Haben Sie auch gerade Gänsehaut? Oder, um es in der Handlung einer englischen Redensart auszudrücken, ist auch über Ihr Grab gerade eine Gans gegangen?

Im nächsten Teil der Artikelreihe über die Einführung von Charakteren werden wir noch weitere Möglichkeiten entdecken, wie Sie auch die Hauptfiguren Ihres Romans so aufregend und einzigartig einführen, wie sie das verdienen.

Stephan Waldscheidt

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