Gestatten: Lecter, Psychiater, Feinschmecker, Kannibale – Charaktere einführen (Teil 4): Reaktion und Vorbereitung

Dirtyand handsome guy in despair

Im vorletzten Artikel haben wir uns angesehen, wie Thomas Harris in »Das Schweigen der Lämmer« den Charakter Hannibal Lecter statisch sowie mit einigen Informationen einführt. Geschickt gemacht, bringen Sie damit Ihre Romanfigur dem Leser schon recht nahe. Im letzten Artikel sind wir eine Stufe weitergegangen und haben dynamische Einführungen betrachtet und auch die Vorstellung eines Charakters mittels Handlung.

Damit der Leser einen Charakter in den Kontext stellt, den der Autor für ihn vorgesehen hat, braucht es in vielen Fällen – andere Charaktere. Wir als empathische Wesen (mal von den Psycho- und Soziopathen unter Ihnen abgesehen, sorry) orientieren uns in vielen Fällen an anderen. Wie wir reagieren. Was wir empfinden. Auch das wurde unseren Vorfahren eingeprägt: Wenn deine Herde losrennt, ist es meist eine gute Idee, selbst ebenfalls loszurennen, auch wenn du keine Ahnung hast, warum und wohin du rennst.

Thomas Harris zeigt uns in der Einführung von Hannibal Lecter, wie die FBI-Agentin Clarice Starling auf den Kannibalen reagiert.

Clarice Starling blieb ein Stück vor dem Gitter stehen, in einem Abstand, der in etwa einer kleinen Eingangsdiele entsprach.

»Dr. Lecter.« Sie fand, daß sich ihre Stimme ganz passabel anhörte.

Er blickte von seiner Lektüre auf.

Eine Sekunde lang dachte sie, sein Blick summte, aber was sie hörte, war nur ihr Blut.

(Alle Ausschnitte, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus: Thomas Harris, Das Schweigen der Lämmer, Heyne 1990/2006)

Wir haben hier gleich drei sehr vielsagende Reaktionen Starlings.

1. Starling bleibt in einem großen Abstand vom Gitter stehen (im Film ist es eine Glaswand), groß genug, dass Lecter sie nicht erreichen könnte, selbst wenn er seine Arme ganz durch die Gitterstäbe zwängen könnte.

Diese Reaktion zeigt dem Leser: Ja, der Mann muss verdammt gefährlich sein, wenn er einer so toughen Agentin solchen Respekt abnötigt. Oder schlicht Angst macht.

2. Starling horcht auf ihre eigene Stimme. Sprich: Sie fürchtet, dass ihre Stimme ihre Angst verrät. Dass sich die Stimme lediglich »passabel« anhört, zeigt, dass sie ihre Angst nicht so ganz unter Kontrolle halten kann.

Für den Leser heißt das: Lecter wirkt auf ihn noch ein Stück gefährlicher.

3. Starling hört ihr Blut rauschen. Puh. Eine klare körperliche Reaktion auf einen extremen Reiz. Und noch etwas kommt dazu: Sie denkt, Lecter Blick summte. Sprich: Der Mann hat einen extrem intensiven Blick, so intensiv, dass er physisch wahrnehmbar wird wie ein summender Draht, der sich zwischen den beiden Charakteren spannt.

Für den Leser heißt das: Alter, dieser Lecter ist definitiv hypergruselig.

Den nächsten Satz dürfen Sie selbst analysieren. Was verrät er uns über Lecter?

»Mein Name ist Clarice Starling. Könnte ich mit Ihnen sprechen?« In ihrem Abstand und ihrem Tonfall kam Höflichkeit zum Ausdruck.

Viele Autoren nutzen gerade dieses Mittel, Charaktere mittels der Reaktion anderer einzuführen, nicht oder zu wenig. Dabei kann es, wie wir gesehen haben, einen Text mit sehr viel Kraft und Intensität aufladen. Richtig angewendet ist es das wahrscheinlich mächtigste Instrument bei der Vorstellung neuer Charaktere.

Seinen ersten Auftritt überhaupt hat Hannibal Lecter im Vorgängerroman »Roter Drache«. Auch dort wird er zunächst vorgestellt, lange bevor er selbst die Bühne betritt. Das Erste, was man hier von ihm sieht, ist eine Narbe – eine, die er verursacht hat, und zwar bei dem FBI-Agenten Crawford, aus dessen Perspektive erzählt wird:

[Crawfords] Hemd war aufgeknöpft und gab den Blick auf die schleifenförmige Narbe auf seinem Bauch frei. Sie war einen Finger breit und hob sich leicht von der Hautoberfläche ab und sie bräunte sich nie wie seine übrige Haut. Sie verlief von seinem linken Hüftknochen über seinen Bauch bis zum linken unteren Teil seines Brustkorbs.

Die Verletzung hatte ihm Dr. Hannibal Lecter mit einem Stanley-Messer beigebracht. Das (…) hätte [Crawford] ihn um ein Haar das Leben gekostet. Dr. Lecter, der sich in der Regenbogenpresse als »Hannibal der Kannibale« einen Namen gemacht hatte (…)

(Thomas Harris, Roter Drache, Heyne 1988/2013)

Ein anderes Mittel könnte diesem Zeigen von Reaktionen jedoch die Schau stehlen: die Vorbereitung der Charaktereinführung mittels Suspense.

Thomas Harris macht das in »Das Schweigen der Lämmer« so geschickt, er hätte gerne noch weit mehr Seiten zwischen der ersten Erwähnung Lecters und seinem ersten Auftritt schieben und die Suspense damit noch ausdehnen können. Aber auch wir Autoren sind ja leider oft zu ungeduldig …

Seite 11:

»Wer ist der Kandidat?«

»Der Psychiater – Dr. Hannibal Lecter.«

Auf diesen Namen folgt unter zivilisierten Menschen immer ein kurzes Schweigen.

Starling sah Crawford unverwandt an, aber sie war eine Spur zu reglos. »Hannibal der Kannibale.«

Seite 13:

»Seien Sie extrem vorsichtig mit Hannibal Lecter. Dr. Chilton, der Leiter der Nervenklinik, wird die Modalitäten Ihrer Begegnung mit Lecter bis in alle Einzelheiten mit Ihnen durchgehen. Weichen Sie nicht davon ab. Weichen Sie, egal, aus welchem Grund, nicht ein Jota davon ab. Falls

Lecter überhaupt mit Ihnen spricht, wird er nur versuchen, etwas über Sie herauszubekommen. Es ist die Art Neugier, die eine Schlange in ein Vogelnest spähen läßt. (…)

Als Will ihm auf die Schliche zu kommen begann, schlitzte er ihn mit einem Teppichschneider auf. Ein Wunder, daß Will überlebt hat. Erinnern Sie sich an den Roten Drachen? Lecter hetzte Francis Dolarhyde auf Will und seine Familie. Dank Lecter sieht Wills Gesicht aus wie von Picasso gemalt. In der Anstalt hat er eine Schwester zerfleischt. Tun Sie Ihre Arbeit, aber vergessen Sie nie, was er ist.«

»Und was ist er? Wissen Sie das?«

»Ich weiß, er ist ein Monster. Was darüber hinausgeht – das kann niemand mit Gewißheit sagen.

Seite 17:

»Lecter ist eine ziemliche Belastung«, sagte Chilton über seine Schulter. »Jeden Tag ist ein Wärter mindestens zehn Minuten allein damit beschäftigt, aus den Publikationen, die er erhält, die Heftklammern zu entfernen.«

Seite 18/19:

»Lecter verläßt seine Zelle nur gefesselt und mit Beißschutz«, fuhr Chilton fort. »Ich werde Ihnen sagen, warum. (…) Die Ärzte konnten eins ihrer Augen retten. Lecter war die ganze Zeit an die Meßgeräte angeschlossen. Er hat ihr den Kiefer gebrochen, um an ihre Zunge zu kommen. Sein Puls ist nie über fünfundachtzig gestiegen, nicht einmal, als er sie hinunterschluckte.«

Ist Ihnen aufgefallen, dass fast sämtliche dieser Vorbereitungen Hannibal ebenfalls nicht statisch beschreiben, sondern das zeigen, was er getan hat? Das ist ein so großer Unterschied wie zwischen dem Stillleben eines faulen Granatapfels und Furious 7.

Ich wette, es gibt da draußen nicht einen einzigen Leser, der nach dieser Vorbereitung nicht auf den Auftritt von Dr. Hannibal Lecter gespannt wäre.

Das Einzige, was Sie jetzt noch falsch machen können, ist, dass der Mann nicht den riesigen Erwartungen entspricht, die Sie da aufgebaut haben. Nein, mein Fehler: Sie können nichts mehr falsch machen. Wie wir im nächsten Teil des Artikels sehen werden, wenn wir eine andere Charaktereinführung analysieren. Die von Christian Grey, dem männlichen Helden aus Shades Of Grey.

Stephan Waldscheidt

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