Neue Select-Regeln: Wie Journalisten ihre Probleme auf Amazon übertragen (und warum sich alle irren)

Ich kann sie nicht mehr lesen, die Überschriften: “Amazon stellt auf Bezahlung nach gelesenen Seiten um”, “Amazon überträgt das Problem des Journalismus auf E-Books“. Nein, liebe Kollegen, das bringt zwar vielleicht viele Klicks, aber es ist falsch. Zuerst die Tatsachen:

  • Wer als Autor bei Amazon und anderswo veröffentlicht, wird jetzt und in Zukunft von Amazon nach verkauften Büchern bezahlt. Das sind übrigens etwa 70 Prozent der Selfpublisher in Deutschland.
  • Wer als Autor nur bei Amazon veröffentlicht, bekommt verkaufte Bücher in Zukunft nach, ähm, verkauften Büchern bezahlt. Das betrifft, je nach Autor, Genre und Buchpreis zwischen 70 und 50 Prozent der Umsätze der betreffenden Autoren.
  • Wer als Autor nur bei Amazon veröffentlicht und dabei eBooks via KindleUnlimited verleiht, der (und nur der) wird für diese Leihen ab 1. Juli nach Anzahl gelesener Seiten bezahlt. Das betrifft, wenn man Punkt 1 und Punkt 2 oben abzieht, also etwa 15 bis 21 Prozent der Umsätze deutscher Selfpublisher.

Warum die Umstellung? Das bisherige Modell von KindleUnlimited hatte einen Geburtsfehler. Unabhängig vom Preis eines Buches haben Autoren für jede Ausleihe denselben Anteil am weltweiten Fonds erhalten, je nach Fondshöhe um die 1,20 Euro. Bei einem Buch für 4 Euro ist das wenig. Bei einem eBook für 99 Cent liegt das aber über dem Verkaufspreis. Gleichzeitig erhält ein Autor für den Verkauf eines 99-Cent-eBooks aber nur etwas über 30 Cent ausgezahlt. Erkennt jemand das Missverhältnis?

Das hatte natürlich Folgen. Schlaue Autoren haben nämlich zwei Strategien eingesetzt:

  1. Sie haben umfangreiche Romane zu 99-Cent-eBooks verhackstückt. Das war finanziell lukrativ, denn statt 2,34 Euro für einen 500-Seiten-Roman konnten sie nun 5 x 1,20 = 6 Euro für fünf 100-Seiten-Büchlein kassieren. Den Lesern war’s einigermaßen egal, sie bekamen ja für ihre Flatrate denselben Inhalt.
  2. Sie haben Serien konzipiert, die von Anfang an für die kleinteilige Vermarktung gedacht waren. Es war finanziell irssinnig geworden, einen richtigen, 400 Seiten starken Roman zu schreiben. Denn fieserweise wirkt die Flatrate-Psychologie gegen teure Bücher: Wer 9,99 Euro im Monat zahlt, will die Investition möglichst schnell wieder hereinbekommen und leiht lieber teure als billige eBooks. Ein 4,99-Euro-Roman wurde also auch noch öfter geliehen als gekauft, der Umfang hat dem Autor wirklich geschadet.

Darüber waren weder die Autoren glücklich, die sich nicht auf Serien-Spiele einlassen wollten, noch Amazon, die eine Flut an Billig-Titeln registrierten. Mit der Umstellung beseitigt Amazon dieses wirklich drängende Qualitätsproblem. Und darum sind die meisten Autoren froh darüber.

Ich übrigens nicht, denn ich schreibe vor allem Sachbücher. Und Sachbüchern schadet die neue Regelung, weil sie selten komplett gelesen werden. Aber das ist auch gar nicht sooo wichtig, weil Sachbücher typische Midlist-Titel sind. Das heißt, es ergibt sehr selten Sinn, sie exklusiv bei Amazon anzubieten. Sachbücher (wenn es sich nicht gerade um Kindle-Handbücher handelt…) profitieren viel stärker davon, überall erhältlich zu sein, weil sie nicht über Rankings (bei Amazon besser zu erreichen), sondern über Suchmaschinen (funktionieren bei Thalia oder iTunes genauso gut wie bei Amazon) gefunden werden.