Plotten oder drauflos schreiben? Wie Sie von hinten nach vorn arbeiten

Einen Roman mit dem Fluss seiner Ideen zu schreiben, drauflos und immer voran, hat so manchen Vorteil. Die Energie und die Freuden des Entdeckertums sind die maßgeblichen Anreize für Autoren, sich auf diese Weise einen Roman zu erarbeiten. Jedoch fehlen dieser Methode eine Menge Vorzüge des stärker geplanten Vorgehens.

Einen solchen Vorzug sehen wir uns am Beispiel eines deutschen Thrillers näher an, »Der Regler« von Max Landorff (Scherz 2011). Der Roman beginnt (nach dem Prolog) so:

»… Gabriel Tretjak saß in einem englischen Clubsessel und beobachtete den Kellner, der ihm einen Gin Tonic brachte. Der Kellner war mit schwarzer Hose, schwarzem Jackett und korrekt geknöpftem weißen Hemd bekleidet. Er war alt, und irgendetwas an diesem Mann, wahrscheinlich die leicht gestauchte, nach oben verschobene Nase und die ausgeprägten Falten um den Mund, erinnerte Tretjak an ein Panzernashorn, das er ein paarmal im Tierpark Hellabrunn gesehen hatte. Der Direktor des Zoos war von einem Pfleger erpresst worden und hatte Tretjak beauftragt, die unangenehme Geschichte zu beenden. Es ging um illegale Medikamente für exotische Tiere. Am Haus des Panzernashorns, wo der Pfleger gerade Dienst tat, hatte Tretjak das erste Mal auf ihn gewartet. Er liebte Rituale, deshalb trafen sie sich auch danach immer wieder an diesem Ort. Bis die Angelegenheit geregelt war. So hatte Tretjak einiges über Panzernashörner gelernt. Sie reagierten empfindlich auf kleinste Veränderungen in ihrer Umgebung, wurden sofort misstrauisch und unberechenbar. Das hatten sie gemeinsam mit fast allen Tieren: Veränderungen bedeuteten Gefahr. Gabriel Tretjak wusste, dass es bei Menschen nicht anders war. …«

Sehen Sie sich den Übergang von der Situation in der Erzählgegenwart in die Rückblende an. Ausgelöst wird diese Rückblende vom Aussehen des Kellners. Eine ganz natürlich wirkende Abfolge:

Reiz (Kellner) → Reaktion (Erinnerung).

Für Drauflosschreiber sind solche Abfolgen jedoch nicht leicht zu lösen. Meistens funktionieren sie nur dann, wenn der Autor sehr, sehr tief in seinem Charakter steckt oder sogar eins mit dem Charakter ist. (Was womöglich ein weiteres Problem andeutet. In diesem Fall könnte das Problem sein, dass nicht der Charakter eine Erinnerung hat, sondern der Autor. Darum aber soll es hier nicht gehen).

Entscheidend ist etwas anderes: Das Drauflosschreiben lässt lediglich eine logische Abfolge von Ereignissen zu (mal vorausgesetzt, der Autor ist des logischen Denkens mächtig). Demgegenüber hat der, der plant, einen klaren Vorteil: Er oder sie kann die Richtung der logischen Schlüsse umkehren. Zwar können das Drauflosschreiber auch. Aber eben erst in der Überarbeitung – ein Arbeitsschritt, den der Planer sich schon mal spart.

In unserem Beispiel bedeutet das: Autor Landorff überlegt sich, wie er erklären kann, was sein Protagonist beruflich tut. Er entscheidet sich für ein bildhaftes und spezifisches Beispiel aus der Vergangenheit des Reglers. Jetzt braucht er nur einen Übergang zu schaffen, der, in der normalen Leserichtung von vorne nach hinten, Sinn ergibt und schlüssig wirkt. Dazu benötigt er ein Tier und kann, von diesem Tier ausgehend, eine Randfigur wie den Kellner erschaffen, der dem Tier ähnelt. Wenn das Tier, für das Landorff sich entscheidet, ein Affe wäre, würde der Kellner den Protagonisten eben an einen Affen erinnern. Voilà!

Auch Autoren, die ihre Geschichte erst beim Schreiben entwickeln, können so ein Problem bereits vor der Überarbeitung lösen. Aber sie müssen dafür stärker ihrer Inspiration vertrauen – und die tut nun mal nicht immer, was sie soll. Vielleicht ist Landorff sogar ein Drauflosschreiber. Er hatte die Szene im Lokal vor Augen, er sah den Kellner vor sich, und der Kellner ähnelte – Inspiration! – einem Panzernashorn. Vom Nashorn ausgehend, dachte der Autor an den Zoo und während er über den Zoo schrieb, fiel ihm ein, was der Regler wohl im Zoo zu tun hatte.

Sie sehen bereits bei dieser verkürzten Darstellung, dass da sehr viel Inspiration und Zufall und Glück ins Spiel kommen müssen, damit sich eine natürlich wirkende und logisch schlüssige Abfolge von Ereignissen ergibt – eine Abfolge, die zudem den Roman voranbringt!

Bei der Methode von hinten nach vorn aber behält der Autor stets die Kontrolle. Er kann sich leichter Situationen wählen und muss sich dazu gar nicht so sehr auf seine Muse verlassen. Wie oben gesagt, hätte der Kellner irgendeinem Tier ähneln können. Da Zusammenhänge herzustellen, ist bedeutend einfacher. Der Kellner müsste auch kein Kellner sein, er könnte alles sein, je nachdem, wo der Autor die erste Szene spielen lassen will. Ein Schaffner, der den Regler an eine Giraffe erinnert hätte, hätte denselben Zweck erfüllt.

Wie Sie sehen: Einen Roman vor dem Schreiben zu planen, erleichtert Ihnen auch das Schreiben selbst, in diesem Fall das von natürlich wirkenden Folgen und Übergängen. Das Planen macht Sie weniger abhängig von Muse, Zufall, Glück. Zugleich bleibt Ihre Muse für Wichtigeres frei.

Planung erlaubt Ihnen zudem, sehr schnell sehr viel mehr Ideen gegeneinander abzuwägen (Nashorn? Affe? Giraffe? Kellner? Schaffner? Taxifahrer?) und sich nicht nur für die eine zu entscheiden, die Ihnen Ihre Muse gerade in den Kopf kegelt, sondern sich – bewusst und abwägend – für die zu entscheiden, die dem Roman, die der Geschichte am besten dient.

Sehen Sie es so. Wie wir alle neigen wohl auch Sie zu Bequemlichkeit. Einen Roman zu planen, macht weit weniger Arbeit – falls Sie das gleiche Niveau anstreben, das Sie als Drauflosschreiber erreichen können. Sobald Sie aber genauso viel Arbeit investieren wie beim ungeplanten Text, können Sie einen viel besseren Roman schreiben. Oder, ein schöner Kompromiss, mit deutlich weniger Arbeit können Sie noch immer einen etwas besseren Roman schreiben – oder zwei Romane in derselben Zeit, in der ein Drauflosschreiber gerade mal einen zuwege bringt.

Ich will und ich kann hier niemanden von seiner Arbeitsweise abbringen. Ich schlage Ihnen nur vor: Liebe Drauflosschreiber, probieren Sie doch einfach mal aus, Ihren Roman ein wenig mehr zu planen. Vermutlich werden Sie feststellen, dass Sie auch beim Planen sehr viele Entdeckungen machen. Sie werden sehen, dass Sie mit mindestens so viel Energie schreiben, wenn Sie genauer wissen, was Ihr Ziel ist. Die Entdeckungen beim anschließenden Schreiben bleiben ja nicht aus, im Gegenteil. Die Ideen werden Ihnen ebenso zahlreich kommen, nur sind sie effektiver, weil fokussierter.

Oder, um in unserem Beispiel aus »Der Regler« zu bleiben: In derselben Zeit, in der Drauflosschreiber eine einzige Idee (Panzernashorn und Kellner) in den Roman einbringen, wählen Planer aus zehn Ideen (Affe und Friseur, Nilpferd und Bademeister, Ziege und Wanderführer usw.) die beste aus.

Klingt für mich nach einem ziemlich überzeugenden Argument fürs Planen.

Nachtrag: Schön, wenn ich ganz ehrlich bin (wie eigentlich immer in meinen Büchern), ist der einzige Grund, warum Autoren ihre Romane nicht planen, der: Faulheit. Das hängt mit der verbreiteten Eigenschaft des Menschen zusammen, unsere Belohnung sofort empfangen zu wollen (hier: das eigentliche Schreiben) und das Unangenehme (hier: das Nachdenken und Planen) vor uns herzuschieben.

Die Ironie an der Sache ist, dass Drauflosschreiber am Ende sehr viel mehr gearbeitet haben werden als Planer. Und das nur, weil sie zu faul zum Nachdenken waren.

Und: Planen macht ebenfalls riesigen Spaß.

Aber sich davon überzeugen, das können nur Sie selbst.

Stephan Waldscheidt

Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Schreibratgeber »Plot und Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen«in der Reihe »Meisterkurs Romane schreiben«.

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