Schreib-Tipp: Wenn ein Nachteil zum Vorteil wird

Alles scheint verloren, am Ende des zweiten Akts von Deon Meyers Südafrika-Krimi »Cobra« (Rütten & Loening 2014). Eine andere Behörde nimmt dem Elite-Team der Kripo, den »Falken«, ihren komplexen Fall um Entführung und Mord ab, die Karrieren der Beteiligten stehen vor dem Aus. Und fast am schlimmsten für die aufrechten und loyalen Ermittler: Sie haben gegen ein Regime verloren, das auf dem besten Wege ist, die Fehler der Vergangenheit, der Apartheid, zu wiederholen und das Land zurück in den Sumpf aus Korruption, Willkür und Staatsgewalt zu stürzen. Enttäuschung bei den Ermittler, Desillusionierung. Wie soll man unter diesen Umständen noch ein guter Polizist sein, wie seine Arbeit tun?

Einer aus dem Team, Protagonist Benny Griessel, reißt seine Mitarbeiter und seinen Vorgesetzten aus der Frustration. Ausgerechnet Griessel! Der Chefermittler ist ein noch nicht sehr lange trockener Alkoholiker, er hat als Einziger seines Teams unter der Apartheidsregierung als Kriminalpolizist gearbeitet, er kennt Desillusionierung und das Sisyphussche Anrennen gegen ein kaputtes und krankes System. Man sollte meinen, er wäre der Letzte, der die Stimmung wenden und die Augen und Herzen der Polizisten zurück zu ihren schwierigen Ermittlungen lenken kann.

Es ist nicht von ungefähr Griessel, der hier die Zügel herumreißt, er tut das nicht trotz all der Gründe, die gegen ihn als Retter sprechen – er tut es deswegen. Denn Griessel wendet all die Dinge, die gegen ihn für diese Rolle sprechen, um hundertachtzig Grad, er macht aus dem Nachteil einen Vorteil: Griessel nämlich weiß besser als jeder andere aus dem Team, wie man mit einer solchen Situation umgeht, wie man sich durch die Frustration und Desillusionierung hindurchkämpft und sich motiviert, seine Arbeit zu tun, die Arbeit als Polizist nicht für den Staat, wie kaputt er auch sein mag, sondern für die Menschen.

Erzählerisch ist das ein Geniestreich des Autors, denn die Wirkung auf den Leser ist gewaltig. Einen solchen Nachteil zum Vorteil zu wenden, geschieht hier ebenso schlüssig wie überraschend, es ist emotionsstark und präsentiert den Protagonisten Griessel im denkbar besten Licht. Auch greift es alles auf, was der Leser bislang über Griessel erfahren hat, der Punkt wirkt wie die Kulmination von allem, was zuvor geschah.

Auch dramaturgisch ist der Punkt optimal platziert. Er kommt nach 80 Prozent des Romans, direkt gefolgt vom Katalysator des zweiten Plotpoints und dem zweiten Plotpoint, der den Roman in den dritten Akt katapultiert. Für den dritten Akt bleiben also noch 20 Prozent (ideal sind 20 bis 25 Prozent, auch wenn Sie sich nicht sklavisch daran halten müssen).

Einen Nachteil zum Vorteil wenden können Sie jedoch an jeder Stelle Ihres Romans. Je wichtiger der Moment ist, desto wichtiger ist jedoch, dass er auch an der richtigen Stelle in der Dramaturgie steht, um seine maximale Wirkung zu erzielen.

Entscheidend hierfür ist eine gute Vorbereitung. Wüsste der Leser in unserem Beispiel nicht, dass Griessel schon unter dem Apartheidsregime gearbeitet hatte, und wüsste er nicht, dass Griessel gegen den Alkohol und andere Dämonen kämpft, Tag für Tag, käme der Umschwung zwar ebenfalls überraschend. Er würde sich jedoch aufgesetzt anfühlen, unverdient, und kaum emotionale Wirkung entfalten. Das hätte Folgen für die ganze Situation. Denn auch Griessels motivierende Rede (Katalysator des zweiten Plotpoints) mit dem davon ausgelösten Wendepunkt (zweiter Plotpoint), in dem das Team wieder auf den alten, den richtigen, den guten Kurs einschwenkt und die Energie aufbringt für den letzten Akt, würde sich unecht anfühlen, wäre nicht schlüssig und könnte den Leser nicht überzeugen.

Was sind solche Nachteile? Das können psychologische und historische sein, wie hier Griessels Probleme mit seinen Dämonen und mit seiner Vergangenheit. Das können körperliche sein, etwa eine Behinderung (Beispiel: Die Anatgonistin ist blind. Sie steht scheinbar hilflos am Straßenrand und wartet, bis der Protagonist sich ihr nähert. Als er ihr helfen will, sticht sie ihm ein Messer in den Bauch.) Oder es sind situative Nachteile, die Sie zum Vorteil wenden können (Beispiel: Der Held verliert in der Schießerei seine Munition, die Pistole ist nutzlos. Er war jedoch als Jugendlicher ein zielgenauer Besucher von Wurfbuden auf Jahrmärkten – und schmeißt dem Gegner die Pistole so geschickt über, dass sie ihn ausknockt.). Sicher fallen Ihnen noch mehr ein. Sicher fällt Ihnen genau der richtige Nachteil ein, der nicht nur einem Ihrer Charaktere zum Vorteil gereichen wird – sondern Ihrem ganzen Roman.

Stephan Waldscheidt

»Dass ich meinen Roman-Erstling erfolgreich in einem großen Publikumsverlag unterbringen konnte, verdanke ich zu einem guten Teil den Schreibratgebern von Stephan Waldscheidt.« (Marlies Folkens)

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