Selfpublishing-Legenden: Früher war alles besser

Baby chick pulling cart with woman and giant egg

Relativ häufig höre ich in den vergangenen Monaten, wie Autorinnen und Autoren von der guten alten Zeit schwärmen, als es mit dem Selfpublishing gerade losging. Das erinnert mich ein bisschen an die 50-er-Jahre-Nostalgie (oder wahlweise an die Begeisterung für die “Goldenen 20er”, die Zeit des Sturm und Drang, die Aufklärung, die Klassik, die Steinzeit…). Ehtrlich, ich wünsche niemandem, in dieser Zeit leben zu müssen. Gleichberechtigung der Geschlechter, Medizin, Technologie, Klassen-Unterschiede, Elend und der tägliche Kampf ums Überleben, das würde kein moderner Mensch lange durchhalten.

Was das Selfpublishing betrifft, ist Nostalgie natürlich ein schönes Gefühl. Aber sehen wir uns doch an, wie es wirklich war, zum Beispiel 2011, als Amazon mit dem Kindle Direct Publishing in Deutschland startete.

  • Die Qualität der im Selfpublishing veröffentlichten Titel war – breiten wir lieber den Mantel des Schweigens darüber. Ich meine nicht die Geschichten, die erzählt wurden und begeisterte Leser fanden, sondern die Produktionsqualität. Profi-Cover waren genauso selten wie ein Lektorat. Da nehme ich meine eigenen Bücher überhaupt nicht aus! Damals haben selbst die erfolgreichen Selfpublisher sämtliche Klischees erfüllt, die manch Feuilleton-Redakteur heute noch über die Qualität im Selfpublishing hegt und pflegt.
  • Die Verkaufsmöglichkeiten waren schlecht. Amazon war der einzige Buchladen, den man direkt beliefern konnte, und auch deren Kindle (englische Oberfläche!) war nicht vom ersten Tag an ein Hit. Auf Platz 1 hat man im Sommer 2011 etwa 100 E-Books am Tag verkauft, mit 20 am Tag erreichte man schon die Top 100. Heute haben etwa 250 AutorInnen die Möglichkeit, vom Selfpublishing zu leben, damals waren es höchstens zehn.
  • Die Zahlungsbereitschaft der Leser war mies. Die meisten E-Books wurden für 99 Cent verscherbelt. Gratis-Aktionen waren DAS Marketing-Hilfsmittel der Wahl. Seit 2011 ist der mittlere Verkaufspreis für die Top 1000 stetig gestiegen!
  • Raubkopien haben den Markt dominiert! Bevor der Kindle auf den Markt kam, war E-Book mit Raubkopie gleichzusetzen. E-Book-Leser kamen überhaupt nur im Netz an Lesestoff. Es hat eine Weile gedauert, bis sich kommerziellw E-Book-Läden als Alternative etablieren konnten.
  • Die Tools für die E-Book-Erstellung waren schlecht und kompliziert. Hat schon mal jemand mit dem Mobipocket Creator gearbeitet? Programme wie Jutoh oder Vellum gab es noch nicht, auch ePub-Export war unüblich.
  • Den Buchhandel mit gedruckten Büchern zu erreichen war schwer und teuer. Die Druckpreise im Print on Demand haben sich seit 2011 etwa halbiert! Ein Taschenbuch zu konkurrenzfähigen Preisen zu vertreiben, war praktisch unmöglich.
  • Die Informations- und Vernetzungsmöglichkeiten waren sehr begrenzt. Es gab weder die Selfpublisherbibel noch den Selfpublisher-Verband, selbst publizierende Schreibende wurden von den Vereinen ernsthafter Autoren als Exoten belächelt.
  • Dienstleister aller Art waren noch nicht wie heute auf Selfpublisher eingestellt. Der komplette Sekundärmarkt rund um Lektorat, Grafik, Distribution, Marketing usw. musste erst noch entstehen.

Tatsächlich ist es so, dass die Chancen für Selfpublisher nie besser waren als heute. Ja, man muss professionell arbeiten, das ist heute unbedingt Voraussetzung, aber das sehe ich keineswegs als Nachteil. Immerhin existieren inzwischen – im Gegensatz zu damals – auch alle Möglichkeiten, als Einzelkämpfer ein Buch auf den Markt zu bringen, das sich in Nichts von einem Verlagstitel unterscheidet.

Natürlich heißt das nicht, dass heute alles prima ist. KU-Betrüger gab es 2011 mangels Kindle Unlimited noch nicht, Selfpublisher haben in manchen Bereichen noch immer um Anerkennung zu kämpfen (insb. im Buchhandel), manche Genres sind im Selfpublishing schwer zu verkaufen, die Anfangshürden sind gewachsen – aber zurück zu 2011 möchte ich auf keinen Fall.