Stiltipps für Autoren: Entfesseln Sie die Power, die in jedem Ihrer Sätze steckt

KNOCKED OUT
Mehr Power für Ihre Sätze (Bild: everett225 / depositphotos.com)

In unserer Reihe mit Stiltipps sehen wir uns an, wie Sie die Power von Sätzen in Ihren Texten freisetzen. Den ersten Teil finden Sie hier.

Dramaturgisch geschickt aufgebaute Sätze auch in Sachtexten – und ein paar weitere Tricks für Romanautoren

Auch bei Sachtexten erzielen Sie eine größere Wirkung, wenn Sie einen Satz auf der höchsten Note beenden. Wie hier Volker Kitz und Manuel Tusch in Ihrem Buch »Warum uns das Denken nicht in den Kopf will« (Heyne 2014):

Umgekehrt sollten Sie aufpassen, dass Sie nicht selbst in die Gefühlswirrwarr-Falle tappen. Wenn Sie abends nach Hause kommen und Ihr Partner mal wieder »nervt« — dann kann es gut sein, dass Ihre körperliche Erregung eigentlich ganz andere Ursachen hat: Vielleicht ist Ihnen der Bus vor der Nase weggefahren. Oder eine Kundin hat Sie bei der Arbeit blöd angemacht.

Oder aber: Sie sind in Wahrheit gar nicht genervt. Sondern verliebt.

Das Entscheidende in diesem letzten Satz sind die beiden Adjektive »genervt« und »verliebt«. Das Kapitel endet mit der Pointe, dem Höhepunkt, dem Wörtchen »verliebt« im letzten Satz.

An diesem Ausschnitt sehen Sie noch etwas anderes: »Sondern verliebt.« ist zwar ein eigener, wenngleich verknappter Satz – dramaturgisch aber bildet er mit dem Vorgängersatz eine Einheit. Auch diese Finessen sollten Sie bei Ihren Texten berücksichtigen, wenn Sie an der Spannungsschraube drehen.

Wenn wir bei Dramaturgie sind, dürfen natürlich auch die Wendepunkte nicht fehlen. Moment. Sätze haben Wendepunkte?

Sehen Sie sich den hier an:

Sabine warf Thomas hinaus, aber er kam durch die Hintertür wieder herein.

Die Wendung im Satz wird durch das Bindewort »aber« eingeleitet. Ein solcher Wendepunkt baut dem Satz einen Konflikt ein – und sorgt so spürbar für Spannung. Wendepunkte im Satz können Sie auch durch andere Bindewörter anzeigen, etwa »doch« oder »obwohl«.

Einige solcher Bindewörter sind wie geschaffen für Konflikte. Wie etwa das »oder«:

Sabine könnte ihn noch einmal hinauswerfen, oder sie könnte einen echten Schlussstrich ziehen und Thomas erschießen.

Auch hier sorgen solche Mikro-Konflikte für einen unterschwellig konfliktreichen Text. Sie eignen sich hervorragend dazu, die großen narrativen Konflikte sprachlich zu verstärken, aber auch zu ironischen Brechungen oder für einen starken Subtext.

So könnte ein Dialog inhaltlich Harmonie vorgaukeln. Sobald Sie jedoch einen Mikrokonflikt in die Sätze dieses scheinbar harmonischen Konflikts einbauen, spürt der Leser, wie es tatsächlich um die Gefühle und Einstellungen der Charaktere bestellt ist.

Beispiel:

»Ich war immer für eine Trennung im Guten«, sagte Sabine.

»Ich auch«, sagte Thomas, »obwohl ich selbst erstaunt bin, wie gut das funktioniert.«

»Du bist ein vernünftiger Mensch«, sagte Sabine, »oder versuchst zumindest, einer zu sein. Das rechne ich dir hoch an.«

»Dann sind wir uns also einig.« Thomas lächelte.

»Ja. Ich bin froh, dass es so laufen konnte, trotz deiner Vorbehalte.«

Die Szene verläuft inhaltlich harmonisch, wozu auch das – womöglich falsche – Lächeln von Thomas beiträgt. Durch die eingebauten Konflikte aber spürt der Leser dennoch die Spannungen zwischen Sabine und Thomas, die keineswegs ausgeräumt sind.

Zur Dramaturgie eines Satzes gehört auch seine Grundgestimmtheit. Diese können Sie über Priming am effektivsten beeinflussen oder festlegen. Beim psychologischen Priming bahnt ein erster Reiz den Weg für die kommenden Reize, indem er Gedächtnisinhalte abruft oder Stimmungen beeinflusst. Bei Ihnen als Autor sind die Reize Ihre Wörter.

Solche Wörter können Verben oder Substantive sein. Je reizstärker, bildgewaltiger, eindringlicher sie sind, desto größer ihr Effekt. Wie in diesem Beispiel:

Leichenstarre hatte eingesetzt, doch Hartmut hielt weiter die Hand der alten Frau. Stank der Leichnam schon oder bildete er sich das nur ein?

Sowohl das Substantiv »Leichenstarre« als auch das Verb »stank« sorgen als reizstarke Wörter für einen Priming-Effekt, der die Art und Weise beeinflusst, wie die Leser den von diesen Wörtern eingeleiteten Satz wahrnehmen.

Meistens aber bahnen Adjektive am Beginn eines Satzes den Weg für Gefühle. Wie hier:

Sie sah ihn traurig an und legte den Kopf an seine Schulter.

In diesem Satz geht es um Traurigkeit, diese Emotion färbt den Satz. Das Gefühl aber steht irgendwo mittendrin. Wenn Sie den Satz umstellen zu …

Traurig sah sie ihn an und legte den Kopf an seine Schulter.

… geben Sie dem Leser sofort das Gefühl zur Hand, das unter dem Satz liegt – und färben für ihn alles Weitere in diesem Satz mit eben dieser Traurigkeit. Für Sie als Autor ist dieses scheinbar so banale Mittel tatsächlich sehr potent, denn Sie erreichen das beabsichtigte Gefühl mit dem ersten Wort und für den kompletten Satz. Je später das Gefühl auftaucht, desto später wird der Leser derart gestimmt Ihren Satz erleben.

Desto eher greift er zum Taschentuch.

Und zu Ihrem nächsten Buch.

Stephan Waldscheidt ist Schriftsteller & Skriptdoktor sowie Autor einer erfolgreichen Reihe von Autoren- und Schreibratgebern. Er berät Romanautoren persönlich oder in Workshops übers Schreiben und Veröffentlichen und schreibt als Paul Mesa selbst Romane.

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(E-Book, 689 Seiten)