Früher war alles besser? Selfpublishing 2011 und 2018 im Vergleich

Günther, Martin und Volker sind drei Loser, die sich in ihrer Erfolglosigkeit behaglich eingerichtet haben. Nicht mal zu dem Raubüberfall kommt es, mit dem das Trio ein paar seiner Probleme lösen will. Irgendwann ist das Buch »Der letzte in der Schlange« von Philip Körting dann auch einfach zu Ende (die Print-Ausgabe hat 98 Seiten). Es gibt sich bis zum Schluss weder als Krimi noch als Persiflage zu erkennen. Es hat keinen Milliardär im Titel, und das Cover ist schwarz, auf dem in schmutzigem dunkelrosa ganz klein Titel und Autor zu erkennen sind.

Dieses Buch war vom 23. bis 29. September 2011 im deutschen Kindle-Shop die Nr. 1, und es war der meistverkaufte belletristische Roman 2011. Damals, kurz nach dem Start des Kindle auf dem deutschen Markt im Frühjahr 2011, muss wirklich noch einiges anders gewesen sein als heute. Was haben die Autoren damals anders gemacht? Handelte es sich um die Goldenen Zeiten des Selfpublishing, wie einige meinen?

Um das zu beurteilen, braucht man zunächst einen Blick auf den Markt. Selfpublishing ist nicht mit KDP gestartet. Es galt lange Zeit als Domäne derer, die es eben nicht zu einem Verlag geschafft hatten. »Der letzte in der Schlange« ist bereits 2003 beim Selfpublishing-Dienstleister BoD erschienen. Nele Neuhaus machte ihre ersten Schritte als Autorin beim damaligen Konkurrenten Ruckzuckbuch (inzwischen insolvent). Dass die Bücher dann auch eine kritische Menge Leser erreichten, war beinahe unmöglich (aber nicht völlig, wie Nele Neuhaus zeigte).

Das änderte sich 2011 mit der Einführung des Kindle und des Kindle-Shops in Deutschland – auch zur Überraschung der Experten. Das E-Book war ja kein neues Phänomen. Leser des Kulturguts Buch galten als extrem konservativ bezüglich neuer Technik. Mit dem »Rocket eBook«, in Deutschland von Bertelsmann propagiert, hatte die Industrie eine Bruchlandung hingelegt. Und nun sollte ausgerechnet ein Gerät mit englischsprachiger Oberfläche ohne Handbuch die Wende bringen, hergestellt von einem Händler, der neben Büchern auch Spielzeug, Schuhe oder Druckertinte anbot? Die Nutzer sollten freiwillig Geld für digitale Inhalte zahlen, die sie anderswo umsonst bekamen? Die Raubkopie-Branche ist schließlich auch im E-Book-Bereich deutlich früher auf moderne Technologie umgestiegen als die chronisch innovationsmüden Buchhändler.

Zur Überraschung aller hat es funktioniert. Schon im April verkaufte ein E-Book auf dem Platz 1 der Kindle-Charts in Deutschland über 100 Exemplare am Tag. Autoren, die das neue Medium mit bereits in der Schublade befindlichen Titeln ausprobierten, waren oft nicht wenig überrascht. Es wurden Bücher nach oben gespült, die nach heutigen Maßstäben schreckliche Cover besaßen und überhaupt nicht lektoriert waren – so groß war der Lesehunger der frühen E-Book-Käufer.

AutorInnen wurden damals üblicherweise so zum Bestseller: Sie fanden in irgendeiner Ecke ihres Schreibtisches ein Manuskript, das Verlage abgelehnt hatten. Sie zeichneten in Microsoft Paint ein Cover. Sie luden ihr Manuskript hoch und warteten ab. Manchmal fanden es die Leser dann von ganz allein. Manchmal aber auch nicht – dann boten die AutorInnen es für drei Tage kostenlos an und hatten danach ihren Bestseller.

Was da im Selfpublishing möglich ist, sprach sich schnell herum. Ein Schreiber empfahl es einem Kollegen, manche las davon in den Magazinen, die über solche Überraschungserfolge gern schrieben. Es zeigte sich, dass der Vorrat unveröffentlichter Manuskripte weitaus größer war als die Zahl durch Verlage veröffentlichter Werke. Das spiegelte sich natürlich in der Qualität der selbst veröffentlichten Bücher wieder. Doch es zeigte sich auch, dass der fehlende Gatekeeper namens Verlag kein echtes Problem ist: Was den Ansprüchen der Leser nicht genügt, fällt mit der Zeit in den Bodensatz der E-Books. Ganz gewiss ist ein großer Teil der im Selfpublishing veröffentlichten Bücher aus professioneller Sicht Schrott. Aber die meisten LeserInnen bekommen dann doch nur die Titel zu sehen, die anderen LeserInnen gefallen haben.

Schneller Vorlauf ins Jahr 2017. Die Welt hat sich verändert, auch im Selfpublishing. Der Markt ist enorm gewachsen: statt 100 Exemplare verkauft (und verleiht) man heute auf der Nr. 1 im Kindle-Shop 2000. Ebenso gewachsen ist die Zahl der AutorInnen. Wer es nicht schafft, professionelle Bücher zu publizieren, hat auf Dauer an diesem Hobby keinen Spaß. Wer heute noch dabei ist, betreibt Selfpublishing aus einem von zwei Gründen: um damit Geld zu verdienen oder um sich damit selbst zu verwirklichen. Manchmal sieht man auch beide Gründe kombiniert, das ist der Idealfall. Aber auch jeder der Gründe für sich ist ehrenwert. Warum soll jemand, der schon immer gern geschrieben hat, seine Texte nicht online stellen, so, wie sie sind, einfach nur für sich, die Familie, Freunde? Den meisten ist dabei durchaus klar, dass sie auf diese Weise nie einen Bestseller landen werden.

Andere, das ist die Minderheit, haben Selfpublishing als Weg entdeckt, vom Schreiben zu leben. Das gelingt heute im Selfpublishing besser als 2011, weil der Markt so gewachsen ist. Und es gelingt im Selfpublishing besser als mit einem Verlag. Bestseller kommen natürlich unabhängig von der Veröffentlichungsform gut über die Runden. Aber Midlist-Autorinnen können heute rein mit Verlags-Veröffentlichungen kaum noch überleben; sie führen oft einen prekären Lebensstil, wenn man den Zahlen der Künstlersozialkasse glaubt. Im Selfpublishing sieht das anders aus – fünf Bücher in der Midlist, konkret in den Top 1000, fahren dem Rechteinhaber im Monat Beträge jenseits der 5000 Euro ein.

Was sich im Vergleich zu 2011 vor allem geändert hat, sind die Anforderungen. Wer vom Schreiben leben möchte, hat heute nur noch mit einem professionellen Produkt eine Chance. Cover, Lektorat und natürlich der Inhalt, alles muss stimmen – und nach der Veröffentlichung auch das Marketing. Glücklicherweise gibt es inzwischen auch jede Menge Tipps und Ressourcen, aus denen Neulinge lernen können. Die meisten erfolgreichen AutorInnen sind gern bereit, ihre guten und schlechten Erfahrungen zu teilen.

Jeder professionelle Selfpublisher verhält sich damit allerdings inzwischen auch wie ein kleiner Verlag. Nicht jedes Buch, nicht jede Investition rechnet sich. Wer auf die Einnahmen angewiesen ist, bekommt den Druck zu spüren, unter dem Verlage stehen: Experimente können durchaus den Ruin bedeuten. Statt einen neuen Trend zu setzen, ist es sicherer, genau das zu schreiben, was gerade angesagt ist. Dann kommt eben nach Milliardärs-Romanze 768 die Nummer 769.

Ebenfalls ein recht neuer Trend ist die Zweiteilung der Selfpublishing-Profis, die von Amazons KDP-Select-Programm vorangetrieben wird. Ein Teil derer, die vom Schreiben leben, ist inzwischen exklusiv bei Amazon erfolgreich. Tatsächlich ist es schwierig geworden, ohne die exklusive Bindung ein E-Book ganz oben zu platzieren, weil dann die Ausleihen wegfallen. Der andere Teil der AutorInnen, und es scheint der kleinere zu sein, begibt sich nicht in diese Abhängigkeit und publiziert auf allen Kanälen. Obwohl die Markanteile von Amazon laut GfK unter 50 Prozent liegen, ist dieser Weg unerwartet steinig. Das liegt zum einen daran, dass es eben nicht genügt, in einem Shop Sichtbarkeit zu bekommen, man muss überall sichtbar sein. Zum anderen begrüßt die Amazon-Konkurrenz Selfpublisher nicht immer so begeistert, wie Amazon das tut. So hat Thalia etwa die Charts auf Umsätze umgestellt und damit viele Selfpublisher aus der Sichtbarkeit gespült. Es ist langfristig auf keinen Fall schlau, AutorInnen in die Arme der Konkurrenz zu treiben, kurzfristig wird es aber die Umsätze des E-Book-Shops gesteigert haben.

Experimente spielen sich im Selfpublishing denn auch heute vor allem unter der Oberfläche ab. Es gibt sie, so wie es auch anspruchsvolle und schwierige Belletristik im Selfpublishing gibt, aber ihr fehlt die Sichtbarkeit für die große Masse. Das erinnert durchaus an alte Zeiten – Bücher, die nicht den Mainstream bedienen, hat man ja auch früher nicht in den großen Buchhandlungen gesehen, sondern eher in Indie-Läden und ähnlichen Biotopen. Den Indie-E-Book-Store gibt es heute noch nicht, obwohl es durchaus Bedarf geben könnte.

Dieser Text erschien zuerst in der März-Ausgabe des Magazins “Der Selfpublisher“.