Schicken Sie Ihre Heldin ins Mathe-Abi – Zeitbegrenzung als Mittel der Suspense

Erinnern Sie sich mal an die unangenehmsten Klausuren und Prüfungen Ihres Lebens. Nicht nur so theoretisch. Versetzen Sie sich in eine dieser Prüfungen hinein. Drin? Dann los.

Neben all den anderen Unannehmlichkeiten, die so eine Prüfung mit sich bringt, sticht eine besonders heraus: Die verdammte Prüfung muss in einer Zeitspanne erledigt werden, die garantiert nicht reicht, alle Fragen zu beantworten, auf alle Lösungen zu kommen oder sie so ausführlich darzulegen, dass es dem Prüfer genügt. Irgendwann spielt die Zeit verrückt, die Uhren laufen immer schneller und das Ende nähert sich mit dem Tempo und der Macht eines heranrasenden ICE. Mindestens so gewaltig, allerdings garantiert pünktlich.

Auch in Ihrem Roman verstärkt eine Zeitbegrenzung einen Konflikt. Wenn der Held beliebig viel Zeit hat, ein schwieriges Problem zu lösen, mag die Lösung, nun ja, schwierig für ihn sein. Ein schwieriges Problem in kurzer Zeit zu lösen ist schwieriger. (Wir reden hier nicht nur über Countdowns. Diese sind ein wichtiger Spezialfall. Darüber ein andermal mehr.)

Sie können das beispielsweise wie im Folgenden beschrieben aufbauen und dabei die Konfliktschraube immer weiter zudrehen. Wir stellen uns diese beispielhafte Zeitbegrenzung gegen Ende des Romans vor, kurz vor dem Höhepunkt:

  1. Das Problem, subjektiv: Machen Sie dem Leser klar, dass die Heldin ein Problem lösen muss. Zeigen Sie das Problem. Stellen Sie es gerne noch schwieriger dar, als es sowieso schon ist. Lassen Sie nicht zu, dass man das Problem in einfacher zu lösende Einzelprobleme auflösen oder es vertagen kann.

    Beispiel: Die Heldin kann nicht zehn Schweinchen einzeln aus dem Haus retten – sie muss sie alle auf einmal retten.

    Hier kommt Ihnen eine nahe personale, also subjektive Erzählperspektive entgegen. Denn die Heldin kann das Problem als besonders schwierig einordnen, selbst wenn es für jemand anderen einfacher zu lösen wäre.

    Beispiel:
    »Was? Ich soll den Todesstern zerstören? Ich bin eine miese Pilotin.« (Was subjektiv ist. Sie war nur die Zweitbeste auf der Akademie. Ihr fehlt es weniger an fliegerischem Können als vielmehr an Selbstvertrauen.)

  2. Was ein perfekter Ansatzpunkt für unser Zweitens ist: 2. Das Problem, objektiv: Machen Sie dem Leser klar, dass das Problem eins ist, das für Ihre Heldin auch objektiv schwerer zu lösen ist als für andere.

    Wenn Sie eine Bombe von einer Expertin für Sprengarbeiten entschärfen lassen, ist das weniger spannend, als wenn es ein Philosoph tun muss, für den Technik ein Buch mit sieben Siegeln ist und der dazu noch nervöse Hände hat. Oder, zurück zu unserer Ausgangsprüfung, wenn ein Mathe-Crack ein Mathe-Abi ablegt, mag das für ihn relativ einfach sein – verglichen mit einem, der mit Zahlen und Formeln auf dem Kriegsfuß steht.

  3. Selbst ist die Heldin: Lassen Sie Ihre Heldin nicht aus der Situation heraus. Sie selbst muss es sein, die das Problem löst, daran führt für sie kein Weg vorbei.

    Beispiel: Die Heldin muss den X-Wing selber fliegen und darf es nicht ihrem Droiden überlassen, dass er sie zur Schwachstelle des Todessterns manövriert.

    Je zentraler das Problem für den Roman ist, desto wichtiger wird es, dass die Heldin sich selbst darum kümmert. Das hängt vor allem mit der poetischen Gerechtigkeit zusammen, die der Leser am Ende Ihres Romans empfinden soll. Eine Heldin, die die Probleme nicht selbst und eigenständig löst, hat sich ihr Happy End nicht verdient.

    An dieser Stelle lauert übrigens eine Falle: In manchen Geschichten und Filmen fragt man sich als Zuschauer, warum ausgerechnet die Heldin ins brennende Haus läuft und nicht der voll ausgerüstete und geübte Feuerwehrmann, der neben ihr steht. Eliminieren Sie sämtliche Auswege für die Heldin und streichen Sie den Feuerwehrmann oder jagen Sie ihm eine Kugel ins Bein. (Sorry, Herr Oberbrandmeister, aber für einen guten Roman müssen Opfer gebracht werden.)

    Oder sie schmeißen den Droiden über Bord. (Sorry, R2D2.)

  4. Das Muss: Die Heldin muss das Problem lösen – sie muss. Wenn sie es nicht tut, explodiert die Bombe / verrät die kleine Schwester, was ihre großen Geschwister ausgeheckt haben / zerbricht die Liebe zwischen dem Dämon und der Jungfrau endgültig / vernichtet der Todesstern den Planeten.

    Stellen Sie dieses Muss sicher, sorgen Sie dafür, dass das Problem nicht von allein weggeht oder sich in Einzelteile auflöst oder mit der Zeit leichter wird.

    Auch hier lauert eine Falle, denn allzu leicht übersehen Sie im Eifer des Gefechts etwas Naheliegendes – zu viele Leser werden das nicht tun. Sie fragen sich »Warum versucht sie, diesen blöden Computer zu hacken, statt einfach den Stecker zu ziehen?« oder »Wieso wartet er nicht noch eine halbe Minute, dann hat das ins Raumschiff eingedrungene Vakuum das Feuer sowieso gelöscht?«.

  5. Fieser Trick: Gehen wir wieder zu Ihrer liebsten verhassten Prüfung zurück. Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich die Aufgaben einmal durchgelesen und sich einen groben Plan gemacht, wann sie welche Aufgabe angehen werden und wie ausführlich sie darüber schreiben wollen. Sie wollen gerade loslegen, da sagt der Prüfer: »Sorry, Leute, hatte mich in der Zeit geirrt, ihr habt leider nur halb so lange für die Beantwortung aller Fragen. Ist aber bestimmt kein Problem für euch Cracks, hm?«

    Ups.

    Mit so etwas können Sie auch Ihre Heldin mehr fordern. Die Bombe geht jetzt nicht mehr in zehn Minuten hoch. Sondern in sechzig Sekunden. Oder der Todesstern hat ein Software-Update bekommen und die Schwachstelle wird nur halb so lange erreichbar sein.

  6. Noch ein fieser Trick: Und wieder zurück in Ihre Prüfung. Stellen Sie sich vor, Sie haben aus vermeintlich zuverlässiger Quelle herausbekommen, dass in der Geschichtsprüfung die Epoche von Karl dem Großen abgefragt wird. Sie wissen alles darüber, sogar die exakten Maße des Karlsthrons in Aachen haben Sie persönlich ausgemessen. Dann schlagen Sie den Prüfungsbogen auf – und darin geht es ausschließlich um die Punischen Kriege. Für Sie werden diese drei Kriege zwischen Römern und Kathagern zu den panischen Kriegen – einer Schlacht gegen Ihre Panik und gegen die Uhr.

    Stellen Sie sich das in Ihrem Roman vor. Die Heldin, die die ganze Zeit dabei ist, eine Bombe zu entschärfen, stellt fest, dass das eigentliche Problem eine Ampulle mit Pockenviren ist, die ein Typ im Laborkittel gerade aus dem Raum trägt, um sie in die städtische Trinkwasserversorgung zu kippen.

Lassen Sie sich von Ihrer meistgehassten Prüfung inspirieren. Womit hätte der Prüfer Ihnen noch den Tag oder das Schuljahr oder die ganze Karriere versauen können? Übertragen Sie das auf Ihren Roman und schon haben Sie die Konfliktschraube wieder ein Stück weiter zugedreht.

Stephan Waldscheidt

Als John Alba schreibt er eine Reihe von Mystery-Thrillern, deren erster Roman jetzt erschienen ist: ZWINGER. Was wirst du tun, um die Liebe deines Lebens von den Toten zurückzuholen? Was wirst du opfern, um deinem Zwinger zu entfliehen? Eine Krankenschwester, die Männer in eine Falle lockt, um ein wahnsinniges Experiment durchzuführen. Ein indisches Mädchen, als Sklavin gehalten, das kein weiteres Mal sterben will. Ein Familienvater, der in einem Zwinger gegen den Hungertod kämpft, für seine kleine Tochter – und gegen die Zeit. Drei Schicksale für immer verbunden. Ein dunkles Wesen, das im Tode lauert. Kein Entkommen.

»Ein tolles Buch, spannend, schön detailversessen, intensiv, minimalistisch, dramatisch, blutig, schlafraubend.« (J. Siemens)

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