Schreib-Tipp: So nutzen Sie die Freiheiten einer vermeintlich starren Romanstruktur optimal aus

Schreiben ist nicht Malen nach Zahlen. Das gilt auch dann, wenn Sie sich einer bewährten Romanstruktur samt deren Meilensteinen (wie Wendepunkten usw.) bedienen. Selbst dort können Sie Ihre Kreativität ausleben – sofern Sie damit dem Roman und seinen Lesern einen Dienst erweisen, keinen Bärendienst.

Der Thrillerautor Robert Crais benutzt in seinem Roman »Hostage – Entführt« einen der typischen Meilensteine, den »Sex at Sixty« (sex@60) in der Nähe des Midpoints.

Der Begriff stammt aus der Filmsprache. Mit »sixty« wird die sechzigste Minute eines Zwei-Stunden-Spielfilms bezeichnet oder die Seite 60 eines typischen Drehbuchs von 120 Seiten. Der Sex ist meist metaphorisch gemeint, kann aber durchaus auch stattfinden.

In der dazugehörigen Szene zeigen Sie als Autor zwei Ihrer Hauptfiguren in einem emotionalen, intimen Moment. Das kann die Bestätigung zweier Kollegen sein: »Ja, du bist cool, und wir kriegen den Drecksack von Schurkowski dran«, oder ein erstes Date zweier Liebender. Es kann subtil sein wie ein verstohlen verliebter Blick oder so exzessiv wie matratzenmordender Sex ohne Schranken. Auch ein rührender und ganz und gar unschuldiger Moment kann als sex@60 funktionieren, wie der Animationsfilm »WALL-E« in seinem Midpoint beweist (Filmausschnitt).

Der Moment spiegelt das Happy End wider oder deutet es voraus.

Dieser Punkt kann auch als Katalysator die Entscheidung im Midpoint anstoßen, die die Zielrichtung für den Rest des zweiten Akts vorgibt.

Crais setzt seinen sex@60 ziemlich genau in die Mitte des Romans. Doch darin findet sich kein Sex zwischen dem Protagonisten Talley und seiner Frau Jane, nicht mal ein Kuss oder eine zärtliche Berührung. Ja, Talley kommt noch nicht mal darin vor!

Warum funktioniert der Meilenstein dennoch? Jane denkt in dieser Szene an ihren Mann und dass sie ihn liebt, obwohl er sich wegen einer traumatischen Erfahrung von ihr entfernt hat. Sie denkt daran, und sagt es ihrer Tochter, dass sie Talley auch dann weiter lieben wird, wenn er sich noch mehr von ihr entfernen würde. Es ist ein Liebes(ein)geständnis und es funktioniert auch als Vorausdeutung des Endes, wo sich Talley und Jane wieder einander annähern.

Etwas Ähnliches ist ebenso für andere Meilensteine denkbar. Nehmen wir den Zweiten Pinchpoint, der etwa in der Mitte zwischen Midpoint und zweitem Plotpoint liegt.

Dieser Punkt ist eine – zweite – große Erinnerung für den Leser: Der Schurke ist nicht nur immer noch lebendig und aktiv, er ist so gefährlich wie eh und je – oder, nein: Er ist sogar noch gefährlicher geworden oder noch gefährlicher, als der Leser oder der Protagonist dachte.

Im Zweiten Pinchpoint bietet sich auch ein Vergleich mit dem Ersten Pinchpoint an. Frank Schurkowski, der Gegenspieler unserer Heldin, erweist sich als gefährlicher als angenommen. Womöglich hat ihn unsere Heldin unterschätzt. Ein fataler Fehler, wie Sie hier im Zweiten Pinchpoint zeigen. In der Regel zeigen Sie tatsächlich den Schurken und was er Schlimmes tut.

Wie nebenbei trägt der Zweite Pinchpoint zur Aufgabe des zweiten Akts bei: Die Ereignisse eskalieren, die Gefahr wächst, die Einsätze steigen. Im Zweiten Pinchpoint zeigen und beweisen Sie dem Leser genau diese Eskalation.

Diese Erinnerung für den Leser kann als Szene durchaus auch dann funktionieren, wenn der Antagonist darin gar nicht vorkommt. Womöglich findet der Ermittler in diesem Punkt eine weitere Leiche – nur dass es diesen Toten jetzt gar nicht geben dürfte. Etwa weil er in einem Zimmer saß, das von mehreren Polizisten rund um die Uhr bewacht wurde. Niemand ist in der Zeit in das Zimmer gelangt. Das Mordopfer beweist (auch dem Leser) auf eindringliche Weise, wie gefährlich der Antagonist ist. Wenn er in bewachte, verschlossene Zimmer gelangen kann, um darin in aller Ruhe einen Mord zu verüben – dann ist niemand vor ihm sicher, nirgends.

Gehen wir noch einen Schritt weiter. Könnte es einen funktionierenden Pinchpoint geben, der weder den Antagonisten noch seine Tat zeigt?

Wenn wir uns ansehen, was die Aufgabe des Pinchpoints ist, dann, ja, dann könnte ein solcher Punkt auch dann funktionieren, wenn Sie weder den Killer noch eins seiner Opfer zeigen. Denken Sie an die Aufgabe dieses Meilensteins: Darin geht es darum, den Leser an die Bedrohung zu erinnern, und das möglichst eindrucksvoll.

Das können Sie auch dadurch erreichen, indem Sie nur den Protagonisten zeigen. Nehmen wir einen Ermittler. Er ist einem Serienkiller auf der Spur. Dort, wo der Zweite Pinchpoint in der Struktur stehen sollte, schreiben Sie eine Szene, in der der Ermittler/Protagonist allein in seinem Wohnzimmer hockt. Vor sich eine halbleere Flasche Quetsch, in seiner Hand ein halbleeres Wasserglas mit Schnaps. Seine Hand zittert. Das Handy neben der Flasche klingelt, ein Foto des Kollegen erscheint auf dem Display. Es ist halb drei Uhr nachts. Der Kollege würde nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Der Kollege würde nicht anrufen … wenn der Killer nicht ein weiteres Mal zugeschlagen hätte. Der Ermittler geht nicht ans Telefon.

Der Leser erkennt die Angst des Ermittlers. Und damit haben Sie den Leser an die Macht des Antagonisten erinnert.

Wer sagt, eine starre Romanstruktur behindere die Kreativität des Autors, hat sich schlicht noch nicht mit der Struktur auseinandergesetzt. Für kreative Autoren ist sie, im Gegenteil, eine Methode, noch mehr aus den eigenen Ideen herauszuholen.

Tun Sie’s.

Stephan Waldscheidt

Als John Alba schreibt er Mystery-Thriller. Soeben erschienen: KESSEL. Wer gewinnt den Kampf um deine Seele – deine Liebe oder dein Hass? Als der sechzehnjährige Tobias mit Rachegedanken und einer Pistole nachts zu seinem brutalen Vater fährt, läuft ihm eine nackte Frau ins Auto. Die Frau sieht aus wie eine seiner Lehrerinnen – und sie sollte tot sein.

Bei dem Versuch, das dunkle Geheimnis aufzuklären, geraten Tobias und seine Freunde in einen Strudel aus Liebe und Hass, Verschwörung und Mord. Ihr Versteck, eine aufgelassene Brauerei in einem einsamen Schwarzwaldtal, wird dabei zum Zentrum immer unheimlicherer Ereignisse. Weltweit tauchen Menschen auf, die tot sein sollten. Der Versuch der Freunde, mehr über das Rätsel zu erfahren, weckt etwas auf, das im Tode lauert. Etwas Grauenvolles. Wie lange noch, bis es die Freunde bemerkt?

Oder hat es das längst?

»John Alba ist ein herausragender Autor. Er hebt sich von den anderen deutschen Krimi- und Thriller-Autoren ab und kann sich mit den Top-US-Thriller-Autoren auf jeden Fall messen.« (RW)

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