Beginnen wir mit einem kleinen Selbsttest:
- Glauben Sie, Ihr Plot wäre verdammt clever?
- Sind Sie überzeugt, mit dieser neuen Idee, diesem herrlichen Twist von letzter Woche den Plot noch einen Zacken raffinierter gemacht zu haben?
- Wird Ihre Synopsis dadurch noch ein bisschen länger, weil Sie das alles ja auch erklären müssen?
- Glauben Sie, Sie wären als Autor verdammt clever, weil Sie sich so komplexe Plots ausdenken können?
Falls Sie mindestens drei Mal mit JA antworten, hat Ihr Plot ein Problem: Er ist wahrscheinlich zu kompliziert. In den meisten Fällen ruiniert ein komplizierter Plot den Roman. Bessere Romane sind einfach. Kompliziert kann jeder. Die Kunst ist es, eine komplexe Geschichte auf simple Weise zu erzählen.
Was, nebenbei, auch aus verkaufstechnischer Sicht sinnvoll ist. Das fängt schon beim Pitch an und hört beim Exposé oder der Presse-Arbeit noch lange nicht auf. Eine klare, einfache Story lässt sich leichter pitchen als ein hochkomplexer Plot. Und sie lässt sich eben auch dem Leser sehr viel leichter vermitteln, im Klappentext und vor allem auch im Roman selbst.
Dieser Hang zum Komplizierten hängt eng mit der Binsenweisheit zusammen, die Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert erkannt hat: »Ich schreibe dir einen langen Brief, weil ich keine Zeit habe, einen kurzen zu schreiben.«
Was die Sache noch schlimmer macht, ist etwas eigentlich Gutes: Als Autor hat man eben immer wieder neue, gute Ideen hat. Doch statt dass man damit die alten ersetzt, pappt man die neuen einfach noch dran. Und der Roman wächst zum Lego-Monster.
Halten Sie sich im Zweifel an diese, zwar grobe, dennoch nützliche Faustregel:
- Komplexe Story + simpler Plot => guter Roman
- Komplexe Story + komplizierter Plot => scheiternder Roman
- Simple Story + komplizierter Plot => peinlicher Roman
und die Frage: Simple Story + simpler Plot => ?
Wobei ich unter Story die eigentliche Geschichte verstehe (»Was passiert?«) und unter Plot die Art, wie Sie diese Geschichte den Lesern näherbringen (»Wie werden die Ereignisse erzählt und strukturiert?«).
Sehen wir uns dieses Problem an einem Beispiel an.
Die Story unseres Beispiel-Romans:
Bei dem Versuch, seine Schwester von Mordvorwürfen zu befreien, deckt Privatdetektiv Abraham eine Verschwörung auf, die bis in die höchsten Ränge der Bundespolitik reicht. Nachdem die Politikerin Kotau ermordet wird, gerät Abraham selbst unter Mordverdacht und wird vom BKA gejagt. Auf der Flucht kämpft er um sein Leben und das seiner Familie. Dazu muss er die gigantische Verschwörung aufdecken, in die Regierung, Verfassungsschutz und Polizei verstrickt sind.
Ein Teil der Story, simpel:
Der Privatdetektiv Abraham braucht Beweise, dass seine Schwester von der korrupten Politikerin Kotau ermordet werden sollte. Dazu bricht er in Kotaus Büro ein und durchwühlt alles nach Unterlagen oder Dateien.
Der gleiche Teil der Story, kompliziert:
Der Privatdetektiv Abraham braucht Beweise, dass seine Schwester von der korrupten Politikerin Kotau ermordet werden sollte. Abraham fragt seinen Freund und Schlüsseldienstbesitzer Rohling, ihm bei dem Einbruch zu helfen. Rohling wird jedoch von seiner Ehefrau, die hinter Rohlings Affäre mit Maja kommt, ausgesperrt. Dadurch verpasst er das Treffen mit Abraham, der daraufhin einen anderen Schlüsseldienst beauftragt, den von Grete Wohlfahrt. Den jedoch muss er für den Einbruch anlügen, schließlich ist das Büro nicht seines. Also lässt er sich einen falschen Personalausweis anfertigen, um Frau Wohlfahrt seine rechtmäßigen Ansprüche auf den Einbruch nachzuweisen. Er ruft bei seinem Bekannten Friedrichsen an, der seit seiner Inhaftierung wegen Fälschens von Banknoten eigentlich sauber ist. Aber Friedrichsen kennt jemanden, Nogger, der Abraham helfen kann und ihm einen gefälschten Ausweis beschafft. Mit dem Ausweis geht Abraham zu Wohlfahrts Schlüsseldienst. Frau Wohlfahrt öffnet die Bürotür für ihn und Abraham sucht im Büro nach Unterlagen oder Dateien.
Was ist hier das Problem?
Im Roman geht es zentral um die Jagd auf Abraham, die Verschwörung, die er aufdecken muss und den Schutz seiner Familie. Nichts davon wird hier auch nur angekratzt. Doch nicht nur diese Abschweifung entfernt den Leser vom eigentlichen Roman. Auch die neu eingeführten Charaktere spielen keine Rolle im weiteren Verlauf und für den eigentlichen Plot. Der Autor zwingt den Leser damit, sich für unwichtige Ereignisse und Figuren zu interessieren, mehr noch: Emotionen und Grips zu investieren, die ihm jedoch keinerlei Zinsen bringen werden.
Diese Verkomplizierung verschafft auch dem Protagonisten Abraham Minuspunkte beim Leser. In der simplen Variante erlebt der Leser Abraham als kurzentschlossen und fähig. Der Leser bekommt zudem den Eindruck, dass die Sache eilt und dass sie enorm wichtig ist, denn sonst würde Abraham ja nicht einbrechen. Insgesamt sorgt diese Variante dafür, dass der Leser sich noch stärker mit Abraham und der Story verbindet.
Die komplizierte Variante erreicht das Gegenteil. Abraham gibt das Handlungsruder ab, wird dadurch passiver (was, sofern das gehäuft vorkommt, ihn unsympathischer macht und ein Happy End unverdienter). Auch verliert er ja eine Menge Zeit, woraus der Leser schließt, dass das Problem nicht sonderlich drängen kann.
Womöglich wird Abraham sogar unglaubhaft. Wenn Sie ihn zuvor als zupackenden Menschen eingeführt haben, würde der Leser erwarten, dass Abraham in dieser Situation das Heft in der Hand behält und die Tür aufbricht. Wenn er jedoch vor einer solchen noch recht ungefährlichen Situation zurückschreckt, untergräbt das den Eindruck, den der Leser von ihm gewonnen hatte. Auch werden dann die kommenden Ereignisse – Abraham muss es mit der kompletten Polizei und hochrangigen Politikern aufnehmen – unglaubhafter: »So ein Schwachstecker würde doch niemals …«
Auch ist es in der geschilderten Situation offenbar gefährlich, mehr Leute als unbedingt nötig einzuweihen, da die Politikerin Kotau einflussreich ist. Zudem drängt die Zeit für seine Schwester. Beides untergräbt der Autor mit der unnötig komplizierten Variante.
Insgesamt erreicht die Verkomplizierung ein Breitschmieren der Geschichte, die damit flacher wird statt tiefer. Jeder Charakter, mit dem der Leser Zeit verbringen muss, nimmt ihm Zeit mit den Hauptfiguren, was letztlich für ein schwächeres emotionales Band sorgt. Auch sorgt eine Verkomplizierung dafür, dass der Leser die Orientierung verliert. Was ist wichtig, was nicht? In welche Charaktere soll ich investieren, in welche nicht? Zudem leidet die Spannung. Ein einbrechender Abraham ist potenziell spannender als einer, der einen Schlüsseldienst beauftragt, eine konzentrierte Szene spannender als fünf mittelmäßige. Schließlich droht die Gefahr, dass Sie als Autor das Zentrale aus dem Blick verlieren und sich unnötig mit Nebenkriegsschauplätzen aufhalten, statt den zentralen Plot zu stärken.
Wenn Ihnen neue Wendungen für Ihre Story einfallen, ist das häufig eine gute Sache. Doch übernehmen Sie diese Ideen nicht unhinterfragt. Einige Tipps:
- Prüfen Sie jedes Mal: Muss ich diese neue Idee an die alte dransetzen? Oder kann diese neue Idee eine alte ersetzen?
- Suchen Sie nicht nach Möglichkeiten, den Plot wendungsreicher zu machen. Sondern versuchen Sie, ihn einfacher zu gestalten. Damit stärken Sie die Story insgesamt.
- Falls Sie Wendungen und Verkomplizierungen einbauen, fragen Sie sich, ob der zentrale (!) Konflikt dadurch verschärft wird und ob die neuen Charaktere auch außerhalb der neuen Wendung noch wichtig für den zentralen Plot sind. Oder ob ein Charakter, in unserem Beispiel Abraham, während der Abschweifung etwas für den zentralen Plot Wichtiges entdeckt oder erfährt oder jemand für den zentralen Plot Wichtiges kennenlernt.
- Besonders gefährdet durch unnötige bis schädliche Verkomplizierungen sind Masterpläne mutmaßlich cleverer Antagonisten. Die Cleverness aber würde der Bösewicht tatsächlich nur dann beweisen, wenn sein großer Plan einfach wäre. Je komplizierter, desto mehr entzieht sich der Kontrolle des Planers und desto mehr geht wahrscheinlich schief. Kein cleverer Schurke würde ein solches Risiko eingehen, schon gar nicht, wenn so viel von dem Plan abhängt.
Wenn Sie es schaffen, eine komplexe Story auf einfache, klare Weise zu erzählen, sind Sie tatsächlich ein verdammt clevererer Autor.
Stephan Waldscheidt
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