Stoffentwicklung und Dramaturgie: Was Sie über Ihre Figuren wissen müssen

Das Figurenensemble ist der Motor einer Geschichte. Das, was die Figuren tun, bildet die Handlung der Story. Mit einer ausgereiften Figurenentwicklung steht der Plot fast von alleine, denn eine Geschichte zieht Energie aus der Dynamik zwischen den Figuren.

Wie gibt man den Charakteren in Geschichten glaubhafte Motivationen? Wie entsteht ein interessanter Konflikt zwischen den Figuren? Wie verleiht man seinen Figuren emotionale und psychologische Tiefe? All das ist Figurenentwicklung im dramaturgischen Sinn.

Die Motivation

In den allermeisten Fällen schulden Autoren ihren Lesern die Antwort auf die Frage, warum die Figuren (= Charaktere) das tun, was sie tun. Die Leser müssen die Motivation hinter den Aktionen verstehen. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann sollten sich ihnen die Beweggründe erschließen, sonst verlieren sie den Faden oder – noch schlimmer – das Interesse.

Daraus ergibt sich ein Kernelement der Figurenentwicklung: Charaktere müssen etwas wollen!

Klingt einfach, wird aber von Novizen häufig vernachlässigt oder vergessen. Schließlich ist es im echten Leben ja nicht unbedingt so, dass wir immer eindeutig nach etwas streben. Und so scheint es realitätsnah, wenn wir eine Hauptfigur kreieren, die zaudert und hadert. Wenn wir dann merken, dass die Handlung nicht richtig in Gang kommt, bereits ahnen, dass es am schwachen Willen dieser Hauptfigur liegt, kann man zwar anführen, dass Hamlet auch ewig braucht, bis er endlich etwas tut – und der ist schließlich der berühmteste Protagonist der Literaturgeschichte!

Doch leider sind wir nicht alle Shakespeare.

Der Konflikt

Es braucht ja immer mehrere Figuren, damit eine Geschichte lebendig wird. Oft bestimmen mindestens drei oder vier Hauptfiguren die Handlung. Sie alle wollen etwas erreichen – und das ist nicht immer das Gleiche. Selbst wenn mehrere Figuren womöglich an einem Strang ziehen und dasselbe Ziel anvisieren, kann dies aus unterschiedlichen Beweggründen heraus geschehen. Daraus entsteht der für Geschichten so unabdingbare Konflikt.

Autoren sollten möglichst viel Kontrast zwischen den Charakteren erzeugen, d. h. diese so unterschiedlich wie möglich gestalten. Das erhöht das Konfliktpotenzial und die jeweiligen Bestrebungen der Figuren geraten auf Kollisionskurs.

Tipp: Definieren Sie das, wonach die Figuren streben, als Zustand. Das erlaubt Ihnen, zwischen dem Wunsch und dem Ziel zu unterscheiden. Das Ziel ist das, was die Figur zunächst glaubt erreichen zu müssen, um den Wunschzustand herbeizuführen.

Archetypisches Beispiel: In einem Märchen wird dem Helden das halbe Königreich und die Hand der Prinzessin versprochen, wenn er die scheinbar unmögliche Aufgabe erledigt. Der angestrebte Wunschzustand ist also Machtstellung und Ehe, das Ziel aber die Tötung des Drachen. Das Ziel ist konkret und bezieht sich auf einen genauen Punkt in der Geschichte. Der Wunschzustand ist eigentlich das, was nach der Geschichte kommt: „… leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage“.

Der Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass Sie der Figur ein „falsches“ Ziel setzen können. Wie wir im Artikel Worauf es beim Plotten ankommt beschrieben hatten, besteht der wesentliche Trick, einer Figur Tiefe zu verleihen, darin, sie etwas lernen zu lassen. Der „Spannungsbogen“ für diese Figur funktioniert dann so:

  1. Ein persönliches Defizit wird am Anfang deutlich.
  2. Die Auswirkung dieses Mankos zeigt sich im Laufe der Geschichte.
  3. Endlich erkennt sie ihr Defizit und lernt es zu überwinden.

Der Moment der Erkenntnis stellt sich oft am Ziel ein, wenn der Held realisiert, dass dieses ursprüngliche Ziel vielleicht gar nicht das ist, was er braucht, um den Wunschzustand zu erreichen. Durch seine Erfahrung ist er weiser geworden und wählt nun einen ganz anderen Weg, um zu bekommen, was er will.

Das persönliche Defizit des Helden in unserem Märchen könnte bspw. sein, dass er tatsächlich feige ist, was sich schon bei den ersten Hindernissen auf seiner Reise zeigt. Der König, dem diese Kunde zugetragen wird, will einen anderen Ritter entsenden, wenn ihm der Prinz nicht den Drachen zu Füßen legt. Auch die Prinzessin entzieht ihm ihre Gunst, wünscht sie sich doch einen strahlenden Helden. Unser Prinz – kreuzunglücklich, da schwer verliebt – findet eine Möglichkeit, den Drachen zu zähmen, statt ihn zu töten (ursprüngliches Ziel). Der König, schwer beeindruckt von dieser mutigen Tat, erfüllt ihm seinen Wunsch.

Vom Außen und Innen

Wir ersehen anhand dieses einfachen Beispiels bereits die duale Struktur von Geschichten.

  1. An der Oberfläche befindet sich die „sichtbare“ Handlung – dem Helden wird eine Aufgabe erteilt, er reitet los und muss diverse Tests bestehen und Hindernisse überwinden, um zum Schluss die finale Konfrontation zu bewältigen. Das ist der Plot, extern, nach außen gerichtet.
  2. Unter der Oberfläche, zunächst lediglich im Bewusstsein der Leser, nicht unbedingt im Protagonisten selbst, liegt die tiefere Bedeutung – das, was die Figur lernen muss: eine emotionale Transformation, ausgelöst von einer Erkenntnis – mit anderen Worten die Verwandlung der Figur von einem unvollständigen „Selbst“ (sie hat ein Defizit) zu einer „vollkommenen“ Person (Defizit beseitigt). Die Art des Mankos bestimmt in gewisser Weise das Thema der Geschichte. Die Vorführung der Veränderung im Innenleben des Protagonisten hat den Sinn, dass wir, die Leser, daraus lernen.

Dramaturgische Funktion

Um als Autor die Außenstruktur der Geschichte zu formen, gilt es, bei der Figurenentwicklung z. B. folgende Aspekte der Charaktere festzulegen:

  • Wunsch – Was will die Figur?
  • Ziel – Welches Ziel setzt sich die Figur, um den Wunschzustand zu erreichen?
  • Aufgabe – Wird der Figur eine Aufgabe oder Mission erteilt oder stellt sie sich diese selbst? (Daraus ergibt sich, was die Figur tun muss, um das Ziel zu erreichen.)
  • Risiko – Was ist die Konsequenz, wenn die Figur scheitert? (Je schlimmer, desto besser, sonst gibt es keinen Grund, warum sich die Leser um die Figur Sorgen machen sollten.)
  • Angst – Wovor hat die Figur am meisten Angst? (Muss ein Autor früh vermitteln und ein Protagonist schließlich bewältigen.)
  • Besondere Fähigkeit – Was kann die Figur besonders gut? (Muss ein Autor früh vermitteln und ein Protagonist schließlich unter Beweis stellen.)

Diese Herangehensweise hilft, die dramaturgische Funktion der Figur in einer Geschichte zu definieren, da diese direkten Einfluss auf die Handlung hat. Es bedarf konkreter Szenen, in denen Antworten auf solche Fragen vermittelt werden.
Um die Tiefenstruktur der Geschichte zu formen, kann ein Autor Fragen wie diese stellen:

  • Defizit – Was muss die Figur lernen?
  • Notwendigkeit – Was braucht die Figur, damit sie das lernen kann?
  • Bewusstsein – Zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte wird sich die Figur dessen bewusst, was sie lernen muss? Tipp: Ganz klassisch gibt es zwei Punkte in der Handlungsstruktur, wo solche Erkenntnismomente platziert werden, den Mittelpunkt (den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte) und die Krise, also das Finale, die endgültige Konfrontation.
  • Wahl – Wird die Figur vor eine (womöglich moralische) Wahl oder Entscheidung gestellt, die verdeutlicht, was sie zu lernen hat?
    Beschäftigen Sie sich mit solchen Fragen und Sie lernen Ihre Figuren gut kennen. So sind Sie in der Lage, das Profil der Charaktere zu schärfen und ein spannendes Figurenensemble zu kreieren.

Charakterisierung vs. Dramaturgie

Sie sehen also, dass es aus dramaturgischer Sicht nicht so wesentlich ist, wie groß eine Figur ist, welche Augenfarbe sie hat, wo sie herkommt, wie sie aussieht. Solche Merkmale der Charakterisierung können wichtig sein, selbstredend, doch bestimmen sie die Handlung erst, wenn sie dramaturgische Relevanz erreichen. Zum Beispiel, wenn das persönliche Defizit einer Figur in mangelndem Selbstwertgefühl begründet liegt, da sie zu groß oder zu klein ist, zu dick oder zu dünn oder ein Problem mit ihrer Herkunft hat.

Dramaturgie besteht aus den Handlungen der Figuren. Eine Geschichte braucht aktive Figuren, damit es eine Handlung gibt. Aktiv werden sie aus ihren Motivationen heraus, weil sie alle etwas wollen. Solange es einen Kontrast zwischen den Charakteren gibt und ihrer jeweiligen Motivation, wird sich automatisch ein Konflikt einstellen. Die dramaturgischen Aspekte der Figuren machen sie zur treibenden Kraft der Geschichte.

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