Wenn es um die Erzählperspektive geht, so sind sich alle Schreibtrainer überraschend einig: Head Hopping – also das Wechseln der Erzählperspektive in Form mehrfachen Hin- und Herspringens von einem Charakter zum anderen innerhalb einer Szene – ist böse (oder, wie es einer formuliert: »Head hopping is the work of the devil.«). Dinge, über die sich alle einig sind, werden nicht mehr hinterfragt. Und so etwas macht mich immer misstrauisch.
Schuld daran ist John Grisham. Er ist nicht nur einer der meistgelesenen Autoren aller Zeiten. Er scheut auch nicht vor Head Hopping zurück. Seinem Erfolg hat es offenbar nicht geschadet. Heißt das, er ist erfolgreich, obwohl er den Fehler begeht? Oder ist der Fehler womöglich gar keiner?
Fangen wir mal mit einem anständigen deutschen Wort fürs Head Hopping an: Hirnhopsen. Und dann formulieren wir unsere Frage um: »Was könnte es für einen erzählerisch guten Grund geben, perspektivisches Hirnhopsen zu betreiben?« Hm, schwierig. Wechseln wir die Perspektive und fragen: »Was gibt es für einen erzählerisch guten Grund, Hirnhopsen zu vermeiden?« Ah, endlich eine Frage, die wir beantworten können.
Eine charaktertreue Erzählperspektive sorgt dafür, dass der Leser im Kopf eines Charakters bleibt. Und die Geschehnisse aus der Perspektive dieses Charakters wahrnimmt.
In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und her geworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern. So klingen Hexen, wenn sie brennen, dachte Vera, oder Kinder, wenn sie sich die Finger klemmen.
In diesem Ausschnitt aus Dörte Hansens Dauerbrenner (sorry) »Altes Land« (Knaus 2015) steckt der Leser in Veras Perspektive. Es ist Vera, die den Sturm hört, Vera, die sich in dem sturmumtosten Haus befindet, und es ist Vera, die sich diese starke Metapher mit den Hexen ausdenkt.
Weiter:
Das Haus stöhnte, aber es würde nicht sinken. Das struppige Dach saß immer noch fest auf seinen Balken. Grüne Moosnester wucherten im Reet, nur am First war es durchgesackt. Vom Fachwerk der Fassade war die Farbe abgeblättert, und die rohen Eichenständer steckten wie graue Knochen in den Mauern. Die Inschrift am Giebel war verwittert, aber Vera wusste, was da stand: Dit Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt, nennt’t ook noch sien. Es war der erste platt deutsche Satz, den sie gelernt hatte, als sie an der Hand ihrer Mutter auf diesen Altländer Hof gekommen war.
Starke Bilder, und alle aus Veras Sicht. Die durchgehaltene Erzählperspektive sorgt dafür, dass der Leser dem Erzählten und der Erzählerin näherkommt. Mit dieser Perspektive zieht die Autorin die Leser tiefer in ihre Geschichte und in ihre Protagonistin. Lesen wird auf diese Weise zu einer intensiven Erfahrung.
Hinzu kommt die Wortwahl, diese starke Sprache, die eine Haltung hat und auf Details baut statt auf Klischees.
Und jetzt kommt der Knackpunkt: Nicht alle Leser wollen und nicht alle Leser wollen immer so tief in eine Geschichte gezogen werden. Manche ziehen ein oberflächliches Lesen vor. Die Gründe dafür sind so vielgestaltig wie die Leser selbst. Die eine mag sich entspannen und kann das am besten, wenn sie nicht (vom Autor) gezwungen wird, sich intensiv mit Drama und Emotionen auseinanderzusetzen. Eine andere Leserin fühlt sich von einer starken Sprache mit Haltung angegriffen: Je stärker die Sprache, desto stärker provoziert sie und verlangt adäquate Reaktionen. Nicht allen Lesern gefällt so etwas. Einige wollen gerade nicht zu tief fühlen, weil sie sowieso gerade verletzlich sind oder müde. Andere lesen, um den lauten Tönen und harschen Ansagen in ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihrer Familie zu entfliehen.
Neben einer Sprache mit Haltung kann auch die Ich-Perspektive als zu nahe empfunden werden.
Vergleichen Sie das mit der Intimsphäre eines Menschen. Der eine hat nichts dagegen, wenn der Gesprächspartner ihm ins Gesicht atmet. Ein anderer fühlt sich angegriffen, wenn jemand ungefragt näher als auf Armlänge an ihn herantritt. Und: Unsere Intimsphäre ist nicht immer die gleiche. Wenn wir uns gut fühlen und aufgeschlossen, lassen wir Leute eher an uns heran als an den Tagen, wo wir uns mies fühlen und in Ruhe gelassen werden wollen.
Auch das Lesen ist ja eine mehr oder weniger intime Erfahrung. Den einen kann es nicht nahe genug sein, sie wollen in die Geschichte tauchen. Anderen genügt es vollkommen, wenn sie auf einem Kanu über die Geschichte hinweggleiten und ja nicht nass werden, wenn die Emotionen spritzen.
Womöglich spricht Grisham viele dieser Leser im Kanu an. Seine Justizthriller versprechen ja immer auch ein intellektuelles Vergnügen, oder, anders gesagt: Er bietet den Lesern im Kanu genug an, damit sie seine Romane genießen können. Sie müssen sich nicht näher auf die Charaktere einlassen, müssen sich nicht mit ihnen identifizieren und in ihrer Gefühlswelt baden. Anscheinend gibt es genug solcher Leser, die Grishams oder auch Michael Crichtons Bücher allein wegen des emotional eher oberflächlichen Genusses kaufen.
Und vergessen wir nicht, dass Leser eben unterschiedlich sensibel sind. Nicht wenige werden mit Grishams Thrillern durchaus ein starkes emotionales Erlebnis haben.
Bevor Sie die Perspektive für Ihren Roman wählen, befassen Sie sich auch mit dieser Frage: Für welche Art Leser schreibe ich in erster Linie? Will ich sie ganz nahe in meinen Text heranholen? Oder darf es etwas Abstand sein?
Schon das Genre oder Ihre Annäherung ans Genre weist da in eine Richtung. Je mehr Humor, desto mehr Abstand. Je leichter und strandlektüreorientierter, desto oberflächlicher darf (und vielleicht sollte) die Perspektive und Sprache sein. Dann wird man Ihnen sogar die Hirnhopserei durchgehen lassen.
Stephan Waldscheidt
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»Brillant« (Isabell Schmitt-Egner), »Großartig« (J. Siemens), »Toll« (Jenny Benkau), »Öffnet die Augen« (Margit Gieszer), »Meisterwerk« (Alexandra Sobottka)