Viele Empfehlungen von Schreibratgebern oder Autorencoaches helfen Ihnen weiter. Je kürzer Ihre Autorenreise in den Buchmarkt oder auf die Bestsellerlisten ist, desto mehr profitieren Sie von Unterstützung. In vielen Fällen ist es sinnvoller, harte Erfahrungen nicht alle selbst zu machen. Die Zeit, die Sie durch das Erlernen von etablierten Methoden und Tricks sparen, steht Ihnen stattdessen zum Schreiben eines wirklich guten Romans zur Verfügung. Klingt für mich nach einem guten Deal.
Doch Gefahren drohen.
Eine: Wenn Sie Tipps und Ratschläge stur befolgen, statt sich zuerst zu fragen: Passt diese Idee zu meinem Projekt? Ist dieser Tipp tatsächlich die beste Lösung bei meinem konkreten Story-Problem?
Manchmal nämlich führt Sie die Geschichte, führen Sie die Charaktere in eine andere Richtung.
Eine andere Gefahr: Je weniger Erfahrung Sie mit dem Schreiben eines Romans haben, desto weniger verlässlich ist Ihr Bauchgefühl. Erfahrung kommt erst mit der Erfahrung und braucht Zeit. Das sollten Sie im Hinterkopf behalten, wenn Ihre Charaktere zu Ihnen sprechen. Manchmal knurrt da vielleicht einfach nur Ihr leerer Magen.
Eine dritte: Wo ein Erfahrungswert da ist oder wo Sie sich auf Funktionierendes, vielfach Erprobtes verlassen, lauert immer auch das Klischee. Hier hilft es, wenn Sie zu unterscheiden lernen, was notwendig für das Funktionieren einer Geschichte ist (wie etwa ein aktiver Protagonist als Ermittler), und wo das Ganze ins Stereotype abzugleiten droht (der Protagonist ermittelt auf eigene Faust, weil seine Kollegen bei der Polizei sowieso alle korrupt und/oder unfähig sind).
Zugleich ergeben sich Chancen.
Sehen wir uns dazu ein Beispiel aus der TV-Serie »Madman« an (Staffel 2, Episode 9: »Six Month Leave«) (Skript: Andre Jacquemetton, Maria Jacquemetton, Matthew Weiner).
Eine der Hauptfiguren, die Sekretärin und dann Marketing-Assistentin Peggy Olsen, hat als ihr die Serie überspannendes Ziel, als Werbekreative so erfolgreich und angesehen zu werden wie ihr Boss, der legendäre Don Draper. Jeder kleine Schritt in diese Richtung ist ein Teilerfolg.
Eine bewährte Schreibempfehlung (Regeln gibt es im Verkehr oder beim Fußball, nicht beim Schreiben) besagt: »Mach es deiner Protagonistin schwer, ihr Ziele zu erreichen.«
Doch die Autoren haben sich für Peggy etwas Besseres einfallen lassen.
Werbemann Freddy Rumsen hat ein Problem: Er ist Alkoholiker. Dieses Mal ist er vor einem wichtigen Meeting so dicht, dass er sich in die Hose macht. Und jemand verpetzt ihn. Rumsen wird entlassen.
Peggy profitiert. Durch den Wegfall dieses Mitarbeiters kann sie auf seine Position rutschen.
War sie die Petze? Nein. Denn auch das wäre eine aktive Maßnahme auf dem Weg zu Ihrem großen Ziel gewesen. Sie profitiert dennoch.
Die Autoren haben die Schreibempfehlung missachtet. Sie haben es Peggy nicht schwerer, sondern sogar leichter gemacht, indem sie ihr Rumsen aus dem Weg geräumt haben.
Warum funktioniert der Kniff hier dramatisch dennoch?
Es stimmt, ja, Peggy kommt ihrem Ziel näher. Aber das ist nur der äußere Aspekt. In ihrem Innern weiß sie, dass sie das Teilziel nicht aus eigener Kraft erreicht hat. Schlimmer. Sie ist auf eine Weise weitergekommen, die sie selbst widerlich findet: vom Unglück eines anderen unmittelbar zu profitieren.
In Schreibersprache übersetzt: Zwar wurde ihr der äußere Konflikt von den Autoren abgenommen. Doch sie haben dafür einen inneren Konflikt gesetzt, der für mehr Drama sorgt, als wenn sie auf regulärem Weg auf Rumsens Position gelangt wäre, indem sie einfach ihre besseren Qualitäten ausspielt.
Hier wird noch etwas deutlich: Schreibempfehlungen können immer nur Teilaspekte beleuchten. Weil sie sonst keine kurze Empfehlung mehr wären, sondern ein ganzes Buch. In nahezu jeder Empfehlung schlummern daher immer auch Ausnahmen. Und diese sind es, die Sie entdecken sollten, wenn Sie etwas Originelles und Klischeefreies erschaffen möchten.
Stephan Waldscheidt
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