Schreib-Tipp: Faszinierende Möglichkeiten der Ich-Perspektive in Ihrem Roman

Das Durchbrechen der vierten Wand, wie es in der Filmsprache heißt, hat seinen besonderen Reiz: Der Autor/Erzähler oder eine Filmfigur redet direkt zum Leser oder Zuschauer. Wie amüsant das sein kann, zeigt aktuell der Film »Deadpool 2« (USA 2018). Doch »Deadpool« offenbart auch eine Gefahr dieser Methode: Sie leiert schnell aus und verliert ihren Reiz. Das hat auch Dean Koontz erkannt. In seinem Roman »Trauma« (2007) setzt er das Mittel sehr viel sparsamer und damit letztlich effektiver ein. Dort ist es der Ich-Erzähler Jimmy, der gelegentlich die vierte Wand durchbricht (oder, bei einem Roman, die Buchseiten zerreißt).

In diesem Bericht meines Lebens will ich bei jeder Gelegenheit auf Amüsement zurückgreifen, denn Lachen ist die perfekte Medizin für das gequälte Herz, Balsam für Leid, aber ich will Sie nicht täuschen. Ich werde Lachen nicht als Vorhang verwenden, um Ihnen den Anblick von Grauen und Verzweiflung zu ersparen. Wir werden zusammen lachen, aber das Gelächter wird manchmal wehtun. [aus: Dean Koontz, »Life Expectancy« (Bantam 2004); eigene Übersetzung; Anmerkung: Im Original heißt es »you«, also sind auch »dich«/»euch« denkbar. Im Folgenden bleibe ich beim »Sie«. Sie sehen, im Deutschen haben wir also noch mehr Möglichkeiten, zwischen Distanz und Nähe zu wählen: Das Du als Anrede würde den Leser noch näher heranholen].

Der Leser wird mittels dieser Ansprache direkter in die Geschichte mit einbezogen, als wenn der Autor ihn ignoriert hätte. Folgende Situation veranschaulicht das: Sie sehen einem Straßenclown bei seiner Vorführung zu. Plötzlich aber schaut der Clown Sie an – und dann zieht er sie in den Kreis der Zuschauer und Sie werden ein Teil seiner nächsten Nummer. Diese Vorführung und dieser Artist werden Ihnen sehr viel besser in Erinnerung bleiben, als wären Sie nur ein unbeteiligter Zuschauer geblieben.

Doch wie bei der Nummer des Straßenclowns birgt auch das direkt Ansprechen des Lesers ein Risiko: Nicht jeder Zuschauer will mit auf die Bühne. Manche werden die Hand des Clowns abschütteln – und die meisten werden danach nicht länger zuschauen.

Beim Lesen ist das Problem weniger krass – es gibt keine anderen »Zuschauer«, der Leser liest in der Regel allein – und daher sind die Leser auch eher zur Mitwirkung bereit. Sicherheitshalber aber sollten Sie es halten wie Dean Koontz: Gehen Sie mit diesem Mittel nur sehr sparsam um. Denn die meisten Leser wollen eben ein Buch auf rein passive Weise aufnehmen und in die Geschichte fallen. Werden sie hingegen häufiger angesprochen, wirkt das bald aufdringlich. Auch weil es den fiktionalen Traum, ironischerweise, gleichzeitig stärkt und stört.

Ganz aus Jimmys Ich-Perspektive fällt der Roman in Kapitel 65. Ab da übernimmt seine Frau Lorrie nicht nur die Hauptrolle in der Szene, sondern auch die Ich-Perspektive. Sie ist ab diesem Punkt und bis auf Weiteres die Ich-Erzählerin. Zur Überleitung durchbricht Koontz abermals die vierte Wand. Nach einigen Absätzen, die Lorrie in der Ich-Form erzählt, heißt es aus ihrer Sicht:

Ich muss diese Geschichte aus Gründen übernehmen, die noch klar werden und die Sie sich schon selbst gedacht haben. Wenn Sie meine Hand nehmen, bildlich gesprochen, schaffen wir das gemeinsam. Also …

Hier sorgt das Durchbrechen der vierten Wand dafür, dass dem Leser der Übergang zur Ich-Erzählerin Lorrie (die er da schon längst ins Herz geschlossen hat) noch leichter fällt. Tatsächlich ist die Übernahme des Erzähler-Ruders ein Spannungstrick des Autors. Denn wir verlassen Jimmys Ich-Perspektive in dem Moment, als der Schurke Vivacemente Jimmy vier Kugeln in Bauch und Brust jagt. Dass jetzt Lorrie das Erzählen übernimmt, lässt anscheinend nur einen Schluss zu: Jimmy hat die Schüsse nicht überlebt. Was zudem plausibel klingt. Vier Kugeln in den Körper, noch dazu Hochgeschwindigkeitsgeschosse aus kurzer Entfernung, kann niemand überleben.

In dem Moment erscheint dem Leser auch die Wahl der Ich-Form von Beginn an so raffiniert. Und Jimmys Tod so überraschend. Denn natürlich rechnet man als Leser nicht damit, dass der Ich-Erzähler das Ende der von ihm erzählten Geschichte nicht erlebt.

Und da ist es letztlich egal, ob Jimmy vielleicht doch überlebt hat.

Stephan Waldscheidt

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