In der Fernsehserie »Humans« (Großbritannien 2015ff.) geht es in einer alternativen Gegenwart um menschenähnliche Androiden, sogenannten Synths, die ein Bewusstsein entwickeln. Im Lauf der Serie werden insbesondere zwei Gruppen beleuchtet: Da ist einmal die Familie Hawkins, eine durchschnittliche englische Familie mit zwei arbeitenden Eltern und drei Kindern, und da ist die Gruppe von Synths, die ein Bewusstsein entwickelt haben. Beide Gruppen interagieren permanent, in beiden Gruppen werden ethische und philosophische Fragen zur Bewusstwerdung von Maschinen dramatisiert. Die Serie ist dramatisch und intellektuell aufregend und für AutorInnen immer wieder inspirierend.
In der zweiten Staffel nun werden die Ereignisse um die Gruppe der Synth zunehmend dramatischer, als immer mehr Synth Bewusstsein erlangen und Gefühle entwickeln. Auf dem Spiel steht bald das Leben nicht nur der Mitglieder der Gruppe von Synth, sondern von sehr viel mehr der künstlichen Wesen. Auch Menschen geraten in Lebensgefahr.
Und hier passiert der Bruch: Obwohl die Familie Hawkins in die Ereignisse verwickelt ist, bleibt die Familie im Inneren fast unberührt davon. Man schlägt sich weiter mit alltäglichen Problemen herum. Die kleine Tochter entwickelt eine Neurose, der Teenagersohn verliebt sich und der Vater möchte, anders als seine Frau, mit der Familie in eine geschützte Kleinstadt ziehen, wo die Kinder nicht länger mit Synth und deren Problemen konfrontiert werden.
Zu Beginn der ersten Staffel hat die Alltäglichkeit des Handlungsstrangs der Familie Hawkins erzählerisch Sinn ergeben. Den phantastischen Ereignissen um menschenähnliche und bewusste Roboter wurde von den Autoren eine dem Zuschauer vertraute Welt gegenübergestellt. Der Zuschauer wird abgeholt.
Wieso funktioniert diese Idee nicht endlos? Wieso gibt es zwischen den Erzählsträngen einen Bruch?
Die simple Antwort ergibt sich schon aus der Idee, die Zuschauer »abzuholen«. Jemanden abzuholen ist nichts, was sich beliebig ausdehnen lässt. Irgendwann ist noch der letzte Zuschauer oder Leser abgeholt. Dann sollte die Fahrt losgehen.
Die hilfreichere Antwort liegt in der sich zuspitzenden Dramatik der Ereignisse um die Synth. Die Alltäglichkeit der Familie Hawkins unterstützt diese nur bis zu einem gewissen Grad. Dann kippt die Sache. Denn der Familienalltag mit seinen vergleichsweise kleinen Problemen widerspricht der Bedeutung der zentralen Dramatik um die Synth. Mehr noch: Für den Zuschauer muss sich das so darstellen, dass die Dramatik nicht groß genug ist, sich auch auf das Leben der Hawkins auszuwirken. Die Autoren bleiben damit den Beweis schuldig, von welch umfassender Bedeutung die Dramatik um den Synth-Erzählstrang ist.
Vergleichen wir das mit einer anderen populären Fernsehserie, mit »Game of Thrones«. Diese beginnt ebenfalls mit einem Erzählstrang auf einer Familie, den Starks von Winterfell. Hier aber zeigen die Autoren sehr schnell, welche Auswirkungen die dramatischen Ereignisse im Land auf alle Familien haben – und bis in die Familien hinein. Denn die Starks werden schon in der ersten Folge der ersten Staffel auseinandergerissen. Familienoberhaupt Ned Stark muss mit dem König in den Süden nach Kings’s Landing, während der Bastard Jon Snow zur Mauer im Norden des Landes geschickt wird. Rasch wird die Familie atomisiert, bis keiner der Starks mehr mit den anderen verbunden ist. Einige sterben.
Die Dramatik der Ereignisse hat vor den Starks nicht Halt gemacht. Im Gegenteil. Die Starks stehen im Zentrum dieser schrecklichen Auswirkungen.
Bei »Humans« hingegen bewegt sich die im Zentrum stehende Familie Hawkins am Ende der zweiten Staffel noch immer auf dem nahezu gleichen Stand wie zu Beginn der ersten Staffel: Alle sind sie zusammen, wohnen unter einem Dach, alle sind sie unversehrt. Für den Zuschauer muss sich das anfühlen wie »Na, den Hawkinses geht es ja noch gut, also kann das alles gar nicht so schlimm und so dramatisch sein, was ringsum geschieht.« Und das ist ein Gedanke, den Sie Ihre Leser nie denken lassen wollen.
Sehen Sie sich die Erzählstränge Ihres Romans an. Und dann sehen Sie sich an, wie sie interagieren und welche Auswirkungen sie aufeinander haben. Arbeiten sie in dieselbe Richtung oder widersprechen sie einander? Mehr noch: Verstärken sie einander dramatisch (so, wie das bei »Game of Thrones« der Fall ist)?
Falls es keine Berührungspunkte gibt: Sollte es welche geben? Sollte es diese schon früher geben?
Falls es Berührungspunkte gibt: Wie können Sie diese intensivieren? Wie können Sie mehr von der Dramatik des einen Strangs in den anderen Strang hineinsickern lassen? Können Sie die Verbindung an ein konkretes Ereignis, einen Gegenstand oder eine bestimmte Person koppeln?
Je mehr Sie die Stränge verbinden, desto enger weben Sie Ihre Geschichte.
Ihr Roman ist nur so stark wie diese Verbindungen.
Stephan Waldscheidt
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»Dass ich meinen Roman-Erstling erfolgreich in einem großen Publikumsverlag unterbringen konnte, verdanke ich zu einem guten Teil den Schreibratgebern von Stephan Waldscheidt.« (Marlies Folkens)
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