Der Leser legt seine Zeit, seine Aufmerksamkeit und nicht zuletzt sein Geld in Ihre Hände, die Hände eines Fremden. Dafür erwartet er einen angemessenen Gegenwert. Sein Maßstab hierfür: Inwiefern bekommt er von dem Buch, was er sich davon verspricht? Das können spannende Lesestunden sein, tief bewegende emotionale Erlebnisse, aufregend exotische Welten und Erfahrungen, Spaß, intellektueller Kitzel, sprachliche Eskapaden, ästethische Genüsse, vertieftes Wissen, Tratsch, gelüftete Geheimnisse, Unschickliches und Verbotenes, die Bestätigung seiner Weltsicht und Vertrautes oder neue Informationen.
Dieses Vertrauen zu gewinnen, dabei hilft Ihnen der Erzähler Ihres Romans. Für den Leser ist er oder die entscheidende Vertrauensperson. Die Grundlagen dieses Vertrauens legen Sie, bevor der Leser das erste Wort von Ihnen liest. Allein die Erzählsituation – der Leser nimmt ein Buch von Ihnen in die Hand, um es zu lesen – bedeutet einen Vertrauensvorschuss für Sie. Das ist gut, nimmt Sie aber in die Verantwortung.
Der Erzähler hilft Ihnen im Lauf des Romans dabei, das Vertrauen des Lesers zu festigen. Im Idealfall führt das zu Vorschusslorbeeren in Form eines Kaufs Ihres nächsten Buchs, der von nichts weiter angestoßen wurde als von Ihrem Autorennamen auf dem Cover. Dann, meine Liebe, mein Lieber, haben Sie den größten Schritt in Ihrer Autorenlaufbahn getan.
Als Autor können Sie auch direkt um das Vertrauen Ihrer Leser werben: Wenn Sie ihnen beispielsweise auf Ihrer Facebook-Seite begegnen, ein direktes Schreiben an Sie mit einer persönlichen Mail beantworten oder sie per Newsletter auf dem aktuellen Stand Ihrer Schreibprojekte und kommenden Bücher halten. Jedoch wird Ihnen keine Marketing- oder Social-Media-Maßnahme so viel Vertrauen einbringen wie der Erzähler in Ihrem Roman.
Haben Sie erst das Vertrauen Ihrer Leserschaft erworben, wirkt sich das wiederum auf das Vertrauen aus, das die Leser Ihren Erzählern entgegenbringen. Selbst wenn David Mitchell seinen nächsten Roman mit einer schwer zugänglichen Erzählerin beginnen würde, ich würde das Buch lesen – hätte dasselbe Buch ein anderer Autor geschrieben, der mein Vertrauen nicht genießt, würde ich es weglegen.
All das nur deshalb, weil ich David Mitchell für einen der größten Autoren der Gegenwart halte. Weil ich ihm und seinen Fähigkeiten, mich zu unterhalten und zu begeistern, vorbehaltlos vertraue.
Dieses Vertrauen hat seine Grenzen. Manchmal reicht es, dieses Vertrauen ein einziges Mal zu enttäuschen, um einen bislang treuen Leser zu verlieren. So ging es mir mit Michael Robotham, der mich mit einem Thriller so begeisterte, dass ich weitere von ihm kaufte und verschlang – bis »Sag, es tut dir leid«. Darin ging er so schlampig mit der Erzählperspektive um, ja, beging krasse Perspektivfehler, dass mir der Roman keinen Spaß mehr machte, weil ich dauernd aus der Geschichte gerissen wurde.
Ich beschloss, Robotham noch eine Chance zu geben. Mein Vertrauen in ihn war ja nicht zerstört, aber angeknackst. Von da ab wollte ich Bücher von ihm genauer unter die Lupe nehmen – mir insbesondere den Erzähler intensiver anhören –, bevor ich sie kaufte.
Diese Chance bekam Robotham mit »Die Rivalin«. Ein Roman, der aus den Ich-Perspektiven zweier Frauen erzählt wird. Von Anfang an störte mich, dass die beiden Erzählerinnen gleich klangen. Was bei drittpersonalen Erzählern noch angehen mag, ist bei Ich-Erzählern ein massives Versäumnis. Denn wozu zwei Ich-Erzähler schreiben, wenn man in dieser nächsten aller Erzählperspektiven keinen Unterschied zwischen den Erzählern erkennen kann? Das nämlich fällt sofort auf die Charaktere zurück, die, obwohl sie sehr unterschiedlich sein und agieren mögen, dann doch nicht einzigartig genug sind.
Nach hundert Seiten und weiteren kleinen Perspektivmängeln war meine Geduld endgültig erschöpft. Dann nämlich griff Robotham gleich doppelt in die Klischeekiste: Eine der Ich-Erzählerinnen erlitt ein Kindheitstrauma, als ihr kleiner Bruder überfahren wurde, während sie auf ihn aufpassen sollte. Gefolgt vom seriellen Befummeltwerden der Dreizehnjährigen durch einen Pastor ihrer Gemeinde. Das wirkt wie ein Abhaken der möglichen Motivationen eines Antagonisten.
Ein nicht angeknackstes Vertrauen hätte mich womöglich trotzdem weiterlesen lassen. Aber da der Autor mich schon mal enttäuscht hatte, war’s das mit den Chancen. Sorry, Michael, keine Bücher mehr von dir.
Vielleicht kennen Sie so etwas aus eigener Lese-Erfahrung. In jedem Fall sehen Sie an meinem Erlebnis, wie essenziell das Vertrauen in den Autor und seine Schöpfungen, die Erzähler, für eine längerfristige Leserbindung ist.
Wichtig beim Etablieren Ihres Erzählers als Vertrauensperson ist der erste Eindruck, den der Erzähler beim Leser hinterlässt. Das ist genau wie im Leben. Der erste Eindruck ist ebenso unausweichlich wie bedeutsam. Der Leser wird, meist unbewusst, eine Haltung zum Erzähler einnehmen, ihn sympathisch finden oder besonders glaubhaft. Fällt dieser Ersteindruck negativ aus, wird es Ihr Erzähler extrem schwer haben, sich das Vertrauen des Lesers zu erwerben oder es im Lauf des Romans zurückzugewinnen.
In Dan Simmons’ »Bitterkalt« finden wir einen Erzähler, der eine schärfer umrissene Aufgabe erfüllt. In dem Thriller besitzt der obdachlose Freund des Protagonisten einen Laptop. Das allein ist ziemlich unwahrscheinlich, etwa wegen der Finanzierung und der sicheren Unterbringung. Und dann ist da das Aufladen … Der personale Erzähler und POV-Charakter sieht im Lager des Obdachlosen ein Verlängerungskabel, das irgendwo hinläuft, er hat keine Ahnung, wohin. Aber indem er sich diese Fragen stellt, nimmt er sie dem Leser vorweg – und macht dadurch die unglaubliche Sache glaubhafter und schafft so ein Vertrauensverhältnis zum Leser oder hält es weiter aufrecht.
An diesem Beispiel erkennen Sie, dass der Erzähler die Macht besitzt, eine noch so unglaubhafte Situation, ein noch so unwahrscheinliches Ereignis ins Glaubwürdige zu drehen.
Bei einem Erzähler, dem er vertraut oder dem er gerne zuhört, ist der Leser zu mehr Zugeständnissen bereit:
- Er bleibt auch in Phasen im Buch und in der Geschichte, die ihn weniger packen. Weil er überzeugt ist, der Erzähler liefere doch irgendwann noch.
- Er nimmt, wie oben gesehen, dem Erzähler Unglaubhafteres eher ab. Das können Sie an sich selbst beobachten. Wir alle sind eher geneigt, Menschen zu glauben, denen wir vertrauen und die wir mögen.
- Er baut eher eine emotionale Beziehung zum Erzähler auf, egal ob dieser im Roman mitspielt oder nicht. Durch diese Beziehung sind die Chancen höher, dass ihm das Buch gefällt, dass er es weiterempfiehlt und dass er ein anderes Buch desselben Autors kaufen wird.
Sie sehen, wie essenziell der Aufbau des Vertrauensverhältnisses zum Leser ist. (Oder, wenn es ein unzuverlässiger Erzähler ist, der Aufbau eines Misstrauensverhältnisses.) Nur wenn das Vertrauen da ist oder ein Vertrauensvorschuss gewährt wird, begibt sich der Leser in die Geschichte und unterschreibt einen der vielen Verträge zwischen ihm und dem Autor: hier den Vertrag, so zu tun, als wäre die Geschichte mehr als erfunden, mehr als ein Haufen Zeichen auf Papier oder Bildschirm. Er legt seinen Unglauben ab (»suspension of disbelief«). Etwas, was jeder Leser zu Beginn einer fiktionalen Geschichte tun muss, um sie zu genießen. Und was er oder sie bereitwillig tut. Es sei denn, Sie verhindern es.
Stellen Sie sich einen neuen Roman aus Lesersicht so vor: Die Leserin trampt auf der Straße der guten Unterhaltung, die Autos sind die Autoren. Es ist nur normal, dass die Leserin zögert, in einen ihr fremden Wagen zu steigen. Es ist der Erzähler, der ihr die Tür öffnet. Der sie anlächelt und begrüßt. Nur wenn er es schafft, das Vertrauen der Leserin gleich auf Anhieb zu gewinnen, nur dann steigt sie zu ihm ein.
Kennt sie den Wagen, steigt sie bereitwilliger ein – selbst dann, wenn der erste Eindruck des Erzählers womöglich nicht der beste ist. Denn sie weiß ja aus Erfahrung, dass sie diesem Wagen vertrauen darf.
Arbeiten Sie gerade bei Ihren ersten Romanen besonders intensiv an dieser Vertrauensbasis Erzähler. Denn das, was Sie als Autor an Vertrauen noch nicht verdient oder gar verspielt haben (siehe mein Verhältnis zu Robotham), muss und kann (!) Ihr Erzähler kompensieren.
Der Erzähler wird im besten Fall zum Mitglied im selben Team wie der Leser – beide spielen Sie den Mannschaftssport »Roman«.
Stephan Waldscheidt
Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Schreibratgeber »Der Erzähler: Verführer, Tourguide, Entertainer und Basis der Erzählperspektive« in der Reihe »Meisterkurs Romane schreiben«. Die Erzählperspektive ist eins der mächtigsten Werkzeuge des Romanautors. Der Erzähler ist die Basis der Perspektive. Erst wenn Sie ihn kennen, können Sie die Möglichkeiten der Perspektive ausschöpfen und optimieren, Fallen ausweichen und Knackpunkte lösen. Erst dann schöpfen Sie das Potenzial Ihres Romans aus.
»Horizonterweiternd, unterhaltsam und tiefgehend« (Kh. auf amazon.de)