Schreib-Tipp: Weltenbau ist Recherche

Für viele Autoren insbesondere von Fantasy ist der Weltenbau das größte Vergnügen beim Schreiben ihres Romans. Man kann sich nicht nur wundervoll in Details der Sozialstruktur der Alienzivilisation auf dem frisch erfundenen Planeten verlieren. Sondern sich auch noch, als Gott, Regeln ausdenken, nach denen die Kobolde ebenso handeln müssen wie Magiere oder Drachen. Da führt eins zum anderen und schnell ist man mittendrin in der siebten Fürstendynastie in einem Seitenarm der königlichen Familie.

Der Weltenbau ist für Fantasy-Autoren das, was für Autoren von realistischen Romanen die Recherche ist. Unerlässlich, um den Charakteren ihren Handlungsspielraum zu geben, den Leser in die Geschichte zu ziehen und das Geschehen lebendig, verständlich und sinnlich erfahrbar zu machen. Wie Recherche ist der Weltenbau aber auch zeitaufwendig und nicht immer einfach. Und vieles, was man sich ausdenkt oder entdeckt, wird nie Eingang in den Roman finden.

Auch lauern bei beidem Fallstricke: Hier wie dort verliert man sich sehr schnell zwischen spannenden Details und eigenen Ideen. Und wie nebenbei verliert man auch den Roman.

Das ist mehr als schade, das ist der der Untergang der Geschichte, die Sie erzählen wollen. Es ist auch ironisch, da die Leser von Fantasy-Romanen dieses Genre ja in erster Linie wegen der für sie fremden und damit aufregenden neuen Welt lesen.

Ganz grundsätzlich und bei allen Genres sollte sich die Welt des Romans für den Leser wie ein organischer Teil des Romans anfühlen. Das heißt unter anderem, dass Sie Beschreibungen nicht aufpfropfen, sondern sie in die Handlung integrieren sollten. Das heißt auch, dass die Charaktere sich nicht wie Fremde in der eigenen Welt bewegen dürfen, sondern vom Leser als natürlicher Bestandteil dieser Welt wahrgenommen werden müssen. Das gilt auch dann, wenn die Charaktere selbst eine für sie fremde Welt entdecken und den Leser auf diese Entdeckungsreise mitnehmen.

Letzteres ist ein bewährter und garantiert funktionierender Trick, wie Sie die von Ihnen erschaffene Welt dem Leser auf selbstverständliche Weise nahebringen: Stoßen Sie den Charakter oder Protagonisten tatsächlich als Fremden in diese neue Welt und lassen Sie den Leser durch die Sinne des Charakters die Welt erkunden. Das funktioniert bei »Per Anhalter durch die Galaxis« ebenso wie bei »Der Herr der Ringe«. Bei »Die Tribute von Panem« entdeckt Katniss die für sie so fremde Stadt der herrschenden Elite ebenso wie die bizarre Kunstwelt der Hungerspiele, bei »Harry Potter« entdeckt der junge Held die Welt von Hogwarts und das Leben als Zauberer. Und der Leser ist die ganze Zeit nahe bei ihnen.

Einen zentralen Fehler machen die Autoren, die sich zunächst und am intensivsten mit Details wie Waffen oder magischen Fähigkeiten auseinandersetzen. Ja, auch das gehört dazu, und Details sind immens wichtig. Bedenken Sie aber, dass die Leser von Ihrer Welt nichts wissen – und da in einem Fantasy-Roman alles möglich ist, sollten Sie den Leser relativ schnell mit den wichtigsten Regeln dieser Welt vertraut machen – Regeln, wie sie für Charaktere gelten, also etwa soziale Milieus (Es gibt eine Handwerkergilde und eine Klasse von Drachenreitern.), Machtgefüge (Es gibt Feudalherren und Leibeigene.), Recht und Gesetz (Dieben wird die Hand abgehackt, beim zweiten Mal die zweite, beim dritten Mal der Kopf – wichtig, wenn der Held ein Meisterdieb ist.), um nur einige zu nennen.

Beginnen Sie mit solchen allgemeinen Regeln und einem Überblick (bei Ihrem Weltenbau, nicht notwendigerweise beim Schreiben!) und bewegen Sie sich von dort zum eigentlichen Zentrum Ihres Romans: zu den Charakteren. Überlegen Sie, wie diese Charaktere leben. Wie sie ticken. Wie sie fühlen. Was ihre typischen Probleme sind. Was sie antreibt. Wie sie dem Tod gegenüber eingestellt sind. Und Verbrechen.

Fangen Sie dann an, Verbindungen zwischen Ihren Charakteren und den Ideen über die Welt herzustellen. Die wesentlichen Aspekte im Weltenbau beziehen sich alle mehr oder weniger direkt auf Ihre Charaktere. Wenn Sie auf der einen Seite die Charaktere und auf der anderen den Plot im Auge behalten, können Sie die Welt um Handlung und Figuren herum aufbauen – und zugleich die Welt die Handlung und die Figuren beeinflussen lassen. Lassen Sie beide Seiten sich gegenseitig beeinflussen und inspirieren.

Schnell stellen sie dabei fest, dass der Weltenbau oftmals Recherche in der realen Welt erfordert: Ist die Welt mittelalterlich, kann unter anderem folgende Fragen aufwerfen: Wie haben die Leute im Mittelalter gesprochen? Wie hat ein Schmied gearbeitet? Welche militärischen Manöver haben die Armeen damals verwendet? Was waren die Gepflogenheiten innerhalb eines typischen Dorfes?

»Der Herr der Ringe« ist nicht aus purem Glück ein weltweiter Longseller. Hinter Tolkiens Weltenbau steht eine unvorstellbare Menge an Recherche im echten Leben. Und das vor Zeiten des Internets!

Denken Sie um. Sehen Sie die Informationen, die Sie bei der Recherche zutage fördern oder die Ideen, die Ihnen beim Weltenbau kommen, nicht nur als Informationen an. Sondern als Inspiration und Ausgangspunkt für eigene Ideen zu Story, Charakteren, Dramaturgie.

Sammeln Sie insbesondere sehr spezifische Details. Je spezifischer, desto lebendiger machen sie Ihren Roman und desto unverwechselbarer. Eine »Liebesgeschichte« haben viele Romane. Die Geschichte einer Liebe zwischen der blinden Elbin Isrin und dem stummen Zwerg Gubbo, die sich in einer Todeszelle der Orcs kennenlernen, erzählen nur Sie.

Wenn Sie auf diese Weise den Weltenbau zu einem Bestandteil von Charakterbau und Plotten machen, erschaffen Sie mehr als eine Welt – einen wunderbaren Roman.

Stephan Waldscheidt

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