Die größte Herausforderung beim Finden der passenden Erzählstimme: Die Stimme muss von der ersten Seite an sitzen. Anders als die meisten Elemente eines Romans können Sie die Stimme nach dem Schreiben der Rohfassung nicht mal eben im Nachhinein korrigieren. Da sie alles durchdringt, heißt eine – nicht nur kosmetische und damit wirkungslose – Korrektur der Stimme: den Text komplett neu schreiben. Hier vorab Zeit zu investieren und verschiedene Stimmen auszuprobieren, ist essenziell für das Gelingen Ihres Romans (oder des Erzählstrangs, den dieser eine Erzähler bedient).
Einen großen Schritt weiter bringt es Sie schon, wenn Sie sich die Herausforderungen bewusstmachen und von Anfang des Schreibens an bei Ihrem Erzähler genau hinhören: »Ist das die bestmögliche, die am besten passende, die authentischste Stimme, die ich ihm mitgeben kann?«
Meist werden Sie nach den ersten Seiten bemerken, wenn da etwas nicht stimmt oder mehr und mehr aus dem Ruder läuft. Eine so frühzeitige Korrektur ist dann weder Herkulesaufgabe noch Hexenwerk. Im Gegenteil: Das Ausloten und Heraushören der passenden Stimme verrät Ihnen eine Menge über den Charakter des Erzählers und entsprechend, bei einem personalen Erzähler, über den Charakter des Protagonisten. Ihre Zeit ist hier also doppelt sinnvoll investiert.
Die starke Stimme eines personalen Erzählers kann den Leser auch dann zum interessierten und mitfühlenden Lesen anregen, wenn es außer der Stimme (zunächst) wenig Mitreißendes gibt oder der erzählende Protagonist kein Sympathieträger ist. Insbesondere schaffen das Antihelden und Schurken und wenig erbauliche Zeitgenossen dann, wenn sie einsichtsvoll über sich selbst berichten. Dahinter steckt die Erkenntnis einer Binsenweisheit: »Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.« Weil sie genau diese Besserung mit seinen Einsichten über die eigene Person und Persönlichkeit in Aussicht stellen, schaffen es Unsympathen ebenso wie Verbrecher, den Leser im Roman zu halten. Der Stimme kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.
Am praktikabelsten erscheint mir ein sich gegenseitig befruchtendes Vorgehen: Sie arbeiten heraus, wer Ihr Erzähler ist oder wie er sein soll – und schreiben in seiner Stimme. Das mag ein Probekapitel sein oder etwas mit dem Roman Unverbundenes. Beim Schreiben kommen Sie der Persönlichkeit des Erzählers näher und nähern sich, bei einem zweiten Probekapitel oder einem Charakter-Interview, auch seiner Stimme weiter an.
Beim Herausarbeiten der Persönlichkeit des Erzählers gehen Sie ähnlich vor wie beim Ausarbeiten Ihres Protagonisten. Sind beide ein und derselbe, erleichtert Ihnen das die Arbeit.
Zielführende Fragen zum Kennenlernen des Erzählers sind beispielsweise:
- Was ist ein hervorstechendes oder sein definierendes Wesensmerkmal?
- Was interessiert ihn am meisten? Mit dieser und ähnlichen Fragen nähern Sie sich seinem inhaltlichen Fokus an.
- Wo kommt die Erzählerin her? Ergründen Sie, was ihre Muttersprache ist, ob sie Dialekt spricht oder mit Akzent. Finden Sie heraus, aus welcher Schicht oder welchem Milieu sie stammt.
- Welchen Beruf übt der Erzähler aus oder womit kennt er sich aus? Damit erkunden Sie unter anderem sein Vokabular und insbesondere die Verwendung von Fachbegriffen.
- Wie definiert sich die Erzählerin? Und wie sieht sie andere Menschen? Hiermit können Sie entdecken, ob die Erzählerin eher Umgangssprache spricht, gerne komplizierte Sätze baut oder wie wichtig es ihr ist, verstanden zu werden.
- Welchen der Sinne bevorzugt der Erzähler? Ist er ein Augenmensch? Ist sie eine Nasenperson? Intuitiv oder eher rational?
- In welcher Situation wird erzählt? In welcher Stimmung, in welcher Verfassung befindet sich die Erzählerin? Die Stimme sollte das widerspiegeln und auf Veränderungen eingehen.
- Warum erzählt der Erzähler diesen Roman oder Subplot? Was ist sein Motiv?
Was will die Erzählerin mit dem Erzählen erreichen? Was ist ihr Ziel?
Schreibtipp: Mit der Erzählstimme geben Sie auch erste Hinweise auf eine kommende Veränderung des Erzählers oder der Protagonistin. Oder Sie steuern stur dagegen, um die Verweigerung der Veränderung oder, in der Heldenreise, die Ablehnung des Rufs zu verdeutlichen.
Es geht für Sie nicht darum, eine Liste abzuarbeiten. Picken Sie sich wie bei einem Buffet das und so viel heraus, wie Sie brauchen, um die Erzählstimme für Ihren Roman oder Subplot zu finden oder zu präzisieren. Manchmal klickt es sofort oder nach ein, zwei Versuchen, ein andermal brauchen Sie viele Punkte dieser oder einer eigenen Liste. Entscheidend ist: Nehmen Sie sich die Zeit, um Ihren Roman und seine Qualitäten nicht wegen einer schwachen, falschen oder zu wenig authentischen Erzählstimme gegen die Wand zu fahren.
Sehr ergiebig beim Finden der Erzählstimme ist das Charakter-Interview. Stellen Sie dem Charakter/Erzähler Fragen, welche aus unserer Liste und eigene, spezifisch auf Ihren Roman zugeschnittene. Und dann lassen Sie den Erzähler reden und, aus seiner Sicht, erzählen. Schreiben Sie mit. Versuchen Sie insbesondere, für diesen Erzähler bezeichnende Aussagen zu entdecken. Achten Sie auf spezielle Ausdrucksweisen, Lieblingswörter, womöglich Signatursätze, die für diesen Erzähler/Charakter typisch sind.
Tun Sie das bei einem personalen Erzähler, werden Sie, wie nebenbei, eine Menge über den Charakter erfahren. Diese Übung zahlt sich doppelt aus: Sie lernen die Romanfigur besser kennen und nähern sich ihrer wahren Stimme mehr und mehr an.
Hilfreich beim Finden der am besten passenden Stimme für Ihren Erzähler ist es oft, probeweise die Erzählperspektive zu wechseln. Machen Sie beispielsweise aus einer drittpersonalen Erzählerin eine Ich-Erzählerin. Mit dieser Methode werden Sie die Aspekte genauer herausarbeiten, die die Stimme – für Sie und in dieser Perspektive – auszeichnen.
Stephan Waldscheidt
Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Schreibratgeber »Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter« in der Reihe »Meisterkurs Romane schreiben«. Wie klingt Ihr Roman? Wie klingt Ihr Erzähler? Wie klingen Sie als Autor? Wäre es nicht wunderbar, all diese Klänge gezielt steuern zu können? Der Praxisratgeber »Die Stimme« unterstützt Sie dabei. Mit ihm nutzen Sie das Potenzial Ihrer Stimme und das Ihres Romans endlich und sehr viel besser aus. Die Stimme ist Handwerk und Kunst, Story und Magie und die Grundlage jedes guten Romans.
»Natürlich hab ich beim Schreiben mit den Erzählstimmen gespielt und sie variiert – aber ich bin nie auf die Idee gekommen, sie bewusst und zielgerichtet einzusetzen. Ein neues Tool im Werkzeugkasten! Das meiste aus diesem Buch hab ich in keinem anderen Ratgeber gefunden. Inhaltlich geht es ans Eingemachte, detailliert werden die theoretischen Grundlagen der Stimmen von Erzählern, Charakteren und Autor beleuchtet, dabei allerdings immer durch Beispiele veranschaulicht.« (Khentron auf amazon.de)