Wie viel vom Autor, wie viel von Ihnen steckt eigentlich im Erzähler Ihres aktuellen Romanprojekts? Und was ist das richtige Maß? Bei einer Lesung haben Sie das sicher schon mal erlebt, ob vorne als Autor oder ob als Zuhörer im Publikum: Einer der Besucher kann nicht so recht unterscheiden zwischen dem Autor und seinem lyrischen, respektive prosaischen, Ich. Schreibt der Autor »ich«, nimmt ein solcher Leser automatisch an, der Autor meine sein reales Ich, er oder sie selbst habe das Geschilderte erlebt oder empfinde exakt so, wie dieses Ich im Roman Gefühle schildert. Und selbst wenn er meint, einen Unterschied zu sehen, so betrachtet er das prosaische Ich im Text doch nur als eine dürftige Verbrämung des realen Ichs des Autors.
In der Vergangenheit, könnte man denken, fiel es den Lesern noch schwerer als heute, die beiden Ichs auseinanderzuhalten. Bei den Lesern des frühen siebzehnten Jahrhunderts dürfte zumeist kein Zweifel bestanden haben, dass Erzähler und Autor ein und derselbe sind. Die folgende Vorrede zu »Don Quijote« enthält neben dieser Erkenntnis kluge und durchaus aktuelle Gedanken über den Erzähler, das Erzählen und den Leser. Von wegen graue Vorzeit!
»Müßiger Leser! Ohne Eidschwur kannst du mir glauben, daß ich wünschte, dieses Buch, als der Sohn meines Geistes, wäre das schönste, stattlichste und geistreichste, das sich erdenken ließe. Allein ich konnte nicht wider das Gesetz der Natur aufkommen, in der ein jedes Ding seinesgleichen erzeugt. Und was konnte demnach mein unfruchtbarer und unausgebildeter Geist anderes erzeugen als die Geschichte eines trockenen, verrunzelten, grillenhaften Sohnes, voll von mannigfaltigen Gedanken, wie sie nie einem andern in den Sinn gekommen sind? Eben eines Sohnes, der im Gefängnis erzeugt wurde, wo jede Unbequemlichkeit ihren Sitz hat, jedes triste Gelärm zu Hause ist. Friedliche Muße, eine behagliche Stätte, die Lieblichkeit der Gefilde, die Heiterkeit des Himmels, das Murmeln der Quellen, die Ruhe des Geistes tragen viel dazu bei, daß die unfruchtbarsten Musen sich fruchtbar zeigen und dem Publikum Erzeugnisse bieten, die es mit Bewunderung und Freude erfüllen.
Es geschieht wohl, daß ein Vater einen häßlichen Sohn besitzt, der aller Grazie bar ist, und die Liebe, die er für ihn hat, legt ihm eine Binde um die Augen, daß er dessen Fehler nicht sieht, vielmehr sie für witzige und liebenswürdige Züge erachtet und sie seinen Freunden als scharfsinnige und anmutige Äußerungen erzählt. Jedoch ich, der ich zwar der Vater Don Quijotes scheine, aber nur sein Stiefvater bin, ich will nicht mit dem Strom der Gewohnheit schwimmen, noch dich, teurer Leser, schier mit Tränen in den Augen bitten, wie andre tun, daß du die Fehler, die du an diesem meinem Sohne finden magst, verzeihen oder nicht sehen wollest; denn du bist weder sein Verwandter noch sein Freund, hast deinen eignen Kopf und deinen freien Willen wie der Allertüchtigste auf Erden und sitzest in deinem Hause, darin du der Herr bist wie der König über seine Steuergelder, und weißt, was man gemeiniglich zu sagen pflegt: unter meinem Mantel kann ich den König umbringen. Alles dieses enthebt und befreit dich von jeder Rücksicht und Verpflichtung, und so kannst du von dieser Geschichte alles sagen, was dir gut dünkt, ohne zu besorgen, daß man dich schelte ob des Bösen, noch belohne ob des Guten, das du von ihr sagen magst.«
(Miguel de Cervantes, »Don Quijote«, die beiden Teile erschienen 1605 und 1615)
Identisch mit dem Autor ist der Erzähler nie.
Auch dann nicht, wenn ein Autor aus der realen Ich-Perspektive real Erlebtes schildert (denken Sie an Karl Ove Knausgård, der mit seiner autobiografischen Jahreszeiten-Tetralogie weltweit literarisches Aufsehen erregte). Identität würde beispielsweise bedeuten, dass der Erzähler sich dieser Identität bewusst ist und damit Dinge aus dem Leben des Autors in den Roman einfließen lassen könnte. So etwas aber tun die wenigsten auktorialen Erzähler.
Schon der Akt des Schreibens ist, wie wir oben gesehen haben, ein sehr wählerisches Kuratieren, eine subjektive Auswahl, und der Erzähler kann, bestenfalls, ein niedrigpixeliges Standbild des Autors zum Zeitpunkt der Niederschrift sein.
Dass Sie nicht der Erzähler Ihres Romans sind, sollte Sie freier machen: Sie sind nicht in der Verantwortung, diese bürden Sie Ihrem Erzähler auf. Und den können Sie so erschaffen, wie Ihnen (und Ihrem Roman) das am besten passt.
Zugleich kann sich der Autor aber nie komplett vom Erzähler lösen. Denn jedes der Worte des Erzählers wurde vom Autor ausgewählt und gesetzt, und der Autor kann nicht über das hinauserzählen, was ihm literarisch, intellektuell oder emotional zur Verfügung steht.
Zwischen diesen beiden Polen der Identität und totalen Trennung bewegen Sie sich.
Um zu wissen, wo Sie Ihren Erzähler verorten, sollten Sie auch sich selbst (besser) kennenlernen. Was bewegt Sie? Was treibt Sie an und um? Was für eine Art Mensch sind Sie? Es gibt viele Möglichkeiten, das herauszufinden, etwa in Gesprächen mit intimen Bekannten oder in Persönlichkeitstests. Sehen Sie die Suche nach sich selbst als Recherche für Ihre Romane.
Das ist keine Einbahnstraße. So, wie Sie sich selbst genauer kennenlernen sollten, um einen besseren Roman zu schreiben, wird auch das Schreiben eines guten Romans dazu führen, dass Sie sich wiederum besser verstehen. Wer sagt, dass nur Ihre Leser menschlich von Ihren Geschichten profitieren dürfen und nicht auch Sie selbst als Schreibender?
Stephan Waldscheidt
Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Schreibratgeber »Der Erzähler: Verführer, Tourguide, Entertainer und Basis der Erzählperspektive« in der Reihe »Meisterkurs Romane schreiben«. Die Erzählperspektive ist eins der mächtigsten Werkzeuge des Romanautors. Der Erzähler ist die Basis der Perspektive. Erst wenn Sie ihn kennen, können Sie die Möglichkeiten der Perspektive ausschöpfen und optimieren, Fallen ausweichen und Knackpunkte lösen. Erst dann schöpfen Sie das Potenzial Ihres Romans aus.
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