Collette flieht vor ihrem ehemaligen Boss, einem Gangster. Sie hat gesehen, wie er jemanden zu Tode folterte, und sie hat sein Geld. Irgendwie spürt er sie immer wieder auf, kein Versteck scheint sicher. Nachdem sie eine Weile unter falschem Namen in einem zwielichtigen Mietshaus untergeschlüpft ist, verliebt Collette sich in einen der anderen Mieter, Hossein. Die Anziehung simmert schon eine Weile, und dann passiert es, sie schlafen miteinander.
So weit, so … mittelmäßig. Doch Autorin Alex Marwood gibt sich in ihrem Psychothriller »Der Killer von nebenan« damit nicht zufrieden. Und Sie sollten das auch nicht tun, wann immer sich Ihnen eine solche Gelegenheit bietet: die Gelegenheit, die Geschichte für die Charaktere schlimmer und für die Leser dramatischer zu machen.
Stimmt schon, die Gelegenheit haben Sie bei jedem neuen Satz. Doch hier konzentrieren wir uns auf Schlüsselstellen im Plot und der Entwicklung der Charaktere.
Dass Collette und Hossein miteinander schlafen, zwei der Hauptfiguren des Romans, ist eine solche Schlüsselstelle. Hier geht es nicht nur darum, etwas schiefgehen zu lassen – wie Sie wissen, ist das die Grundlage jeder Geschichte. Es geht darum, etwas im richtigen Moment schiefgehen zu lassen. Und der richtige Moment für die Steigerung der Dramatik ist exakt der falsche, genauer: der ungünstigste Moment.
In »Der Killer von nebenan« schlafen Collette und Hossein eben nicht irgendwann miteinander. Sondern ausgerechnet dann, als Collette erkannt hat, dass ihr die Verfolger dicht auf den Fersen sind, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Collette ihre Wohnung und das Haus und mit ihm auch Hossein verlassen will, auf Nimmerwiedersehen.
Der Sex passiert, durchaus glaubhaft, sodass der Leser diese Komplikation deutlich wahrnimmt und mit ihr die Steigerung der Spannung.
Zu den Schlüsselstellen gehören insbesondere, aber nicht nur, die Meilensteine der Romanstruktur: Wendepunkte, der zentrale Midpoint und natürlich auch der Höhepunkt, ebenso wie Anfang und Ende oder das auslösende Ereignis und der Tiefpunkt (»Alles ist verloren«).
In Tolkiens »Der Herr der Ringe« kommt Zauberer Gandalf nicht irgendwann ins Auenland, um den Einen Ring einem Hobbit anzuvertrauen. Gandalf sucht sich dazu ausgerechnet den einundelfzigsten Geburtstag von Bilbo Beutlin aus, eine große Party. Das Grauen schlägt mitten hinein in die ausgelassenen Feierlichkeiten. Es hätte andere blöde Zeitpunkte für seinen Auftritt gegeben, aber Gandalf sucht sich einen verdammt ungünstigen aus – einen mit dramatischem Potenzial.
Dieses Potenzial finden Sie zum Beispiel in Kontrasten: Hier der Ring und alles Furchtbare, was er mit sich bringt, dort die fröhliche Feier. Hier die Erfüllung einer schwelenden Sehnsucht zwischen Collette und Hossein, dort die Gangster, die Collette nach dem Leben trachten.
In »Unterwegs nach Cold Mountain« von Charles Frazier lernen sich die gebildete Pfarrerstochter Ada Monroe und der einfache Handwerker Inman kennen – und lieben. Doch ausgerechnet als sich diese Liebe erst bewähren und entwickeln soll, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt also, werden die beiden getrennt. Durch den Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs, denn Inman zieht auf der Seite der Konföderierten in den Krieg.
Derselbe Bürgerkrieg sorgt, im Roman »Lincoln im Bardo« von George Saunders, dafür, dass der Präsident nicht um seinen gerade gestorbenen kleinen Sohn trauern, den Verlust nicht verarbeiten kann. Lincoln muss eine Nation führen, Sklaven retten, Heere in die Schlacht schicken. Das intime persönliche Ereignis und die gewaltige offizielle Aufgabe bilden einen Kontrast, der die Grundlage für Dramatik und Spannung legt.
In »Rote Wasser« von Reggie Nadelson erhält Ermittler Artie Cohen zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt den Anruf eines langjährigen Freundes, einen Hilferuf. Doch Cohen drückt das Gespräch weg, schließlich weiß er, dass sein alter Freund zu Übertreibungen neigt. Der Leser versteht Cohen. Denn der Anruf erreicht ihn an seinem Hochzeitstag. Der Anruf zum ungünstigen Zeitpunkt ist zugleich das auslösende Ereignis des Krimis.
Doch der Zeitpunkt ist nur ein Aspekt, der durch seine ungünstige Beziehung zu den Ereignissen dramatischen Sprengstoff birgt.
So können etwa auch Orte ungünstig sein. Denken Sie an den klassischen Fall der Geburt in einem Taxi. Und was ist ein denkbar ungünstiger Ort, um einen Orgasmus zu faken? Wer den Film »Harry und Sally« kennt, weiß es: ein vollbesetztes Restaurant.
In dem Mittelalter-Krimi »Das schwarze Sakrament« von Dennis Vlaminck wird Büttel Konstantin von seinem Herrn, dem Erzbischof von Köln, ins benachbarte Jülich geschickt, um einen Mordfall in einer Kirche aufzuklären. Der denkbar ungünstigste Ort: Die Kirche gehört zum Erzbistum, doch die Grafschaft Jülich, wo die Kirche steht, befindet sich kurz vor ihrem nächsten Krieg mit Köln. Ein kleiner Fehler von Konstantin könnte der Tropfen sein, der das Kriegsfass zum Überlaufen bringt.
Achtung: Bei Schauplätzen lauert daneben eine Gefahr, der insbesondere Autoren ausgesetzt sind, die gerne und häufig Filme und TV-Serien schauen. Denn für den Film werden häufig Schauplätze deshalb ausgewählt, weil sie schön anzuschauen sind oder produktionstechnische Vorzüge bieten. In einem Buch brauchen und sollten Sie sich von diesen Aspekten nicht leiten lassen. Nur weil gefühlt die Hälfte aller Actionfilme ihren Höhepunkt in einer verlassenen Fabrik ansiedelt, müssen Sie das in Ihrem Roman nicht ebenso halten. Eine verlassene Fabrik ist oft ganz und gar nicht ungünstig. Gerade weil sie verlassen ist. Wäre es nicht dramatisch weit interessanter, die finale Schießerei in einer Fabrik anzusiedeln, wo Menschen arbeiten – und damit auch gefährdet werden und in den Weg geraten können?
Auch eine Person kann »ungünstig« sein und damit für mehr Konfliktpotenzial und Dramatik sorgen. Das klassische Beispiel ist der arme Müllersjunge, der auszieht, den Drachen zu töten, wo doch schon schwerbewaffnete Ritter samt ihrer stahlbehuften Reittiere gescheitert sind. Ein anderes Beispiel ist Frodo Beutlin in »Der Herr der Ringe«, als Hobbit kleiner als alle anderen aus der Bruderschaft des Rings, seine einzige Kampferfahrung ist das Abpflücken von Schnecken vom heimischen Kohl.
Auch in Ihrem Roman lauert sehr viel mehr dramatisches Potenzial. Stellen Sie hierfür vor jedem wichtigen Ereignis im Plot die Frage: Was sind hierfür die denkbar ungünstigsten Umstände?
Stephan Waldscheidt
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»Brillant« (Isabell Schmitt-Egner), »Großartig« (J. Siemens), »Toll« (Jenny Benkau), »Öffnet die Augen« (Margit Gieszer), »Meisterwerk« (Alexandra Sobottka)