Im Film »Der Soldat James Ryan« (USA 1998) von Steven Spielberg wird, ganz klassisch, das zentrale Ziel der Story im ersten Plotpoint festgelegt, nach exakt zwanzig Prozent des Films strukturell und dramaturgisch gut platziert: Der Soldat James Ryan aus Iowa, gerade im Einsatz im Frankreich der Invasion vom Sommer 1944 verschollen, soll gefunden und sicher nach Hause gebracht werden. Hintergrund ist die Entdeckung durch das amerikanische Kriegsministerium, dass drei der vier Söhne der Witwe Ryan kurz hintereinander im Krieg gefallen sind. Der vierte Sohn muss gerettet werden. Mit anderen Worten: Es ist eine patriotische Public-Relations-Aktion. Damit beauftragt wird Captain (Hauptmann) John H. Miller (Tom Hanks). Er sammelt den Rest seiner bei der Landung am Strand der Normandie arg dezimierten Kompanie und macht sich auf den Weg, der vor allem eine Suche ist.
So weit, so gut. Doch dann läuft die Story in ein Problem. Eins, das Sie vielleicht aus eigener Erfahrung bei Ihren Romanen wiedererkennen: Das Ziel, das Miller und seine Leute verfolgen, ist nicht ihr eigenes. Soldaten befolgen Befehle, das ist normal. Ebenso normal sind Ermittler, die als Polizisten einen Kriminalfall aufklären müssen. Weil es ihr Job ist.
Daraus folgen automatisch weitere potenzielle Schwachstellen in einer Story. Ein Ziel, das der Protagonist nicht auch innerlich, emotional zu seinem eigenen Ziel macht, wird er nie so leidenschaftlich und entschlossen verfolgen wie eins, das ihm am Herzen liegt. Damit werden auch die Konflikte schwächer. Stellen Sie sich das ganz bildlich vor: Der Protagonist rennt nur mit halber Kraft gegen die verschlossene Tür an. Er geht nicht an seine Grenzen, er fordert sich nicht bis aufs Äußerste.
Diese fehlende Leidenschaft überträgt sich auf den Leser. Er spürt, dass der Protagonist nicht mit dem Herzen dabei ist und wird, sofern er sich mit dem Protagonisten identifiziert oder sich in ihn einfühlt, dem Geschehen mit weniger Emotionen folgen. Und damit auch weniger Spannung empfinden.
»Der Soldat James Ryan« zeigt eine Möglichkeit, dem Problem zu begegnen: Indem einige der Soldaten die Mission infrage stellen, baut sich ein Konflikt auf, ein Beziehungskonflikt innerhalb des kleinen Trupps, ein Konflikt zwischen diesen Soldaten und dem Captain. Dieser verschärft sich, als zwei Kameraden sterben.
Eine Lösung ist dieses Infragstellen des Ziels nicht. Zwar lädt der Konflikt die Handlung mit mehr Energie auf. Doch funktioniert das nur kurzfristig und hat, längerfristig, sogar eine negative Folge: Das Ziel – immerhin das zentrale Ziel der Films – erscheint für den Zuschauer immer unwichtiger. Und: Wenn schon die Charaktere nicht hinter dem Ziel stehen, wieso sollte es dann der Zuschauer, der sich mit ihnen identifiziert?
Als weitere Folge zieht sich der Mittelteil des Films für den Zuschauer in die Länge. Den Figuren fehlt der Drive und das spürt man im Kinosaal oder Fernsehsessel.
Wie können Sie das Problem lösen, wenn Sie respektive Ihre Protagonisten es in Ihrem Roman mit aufgezwungenen Zielen zu tun bekommen?
Die scheinbar banalste Lösung: Sorgen Sie dafür, dass das Ziel dem Protagonisten eben nicht mehr als ein fremdes, ihm aufgezwungenes erscheint. Nur wie? Oben haben wir gesehen, dass den Charakteren in solchen Situationen die Leidenschaft fehlt. Also starke Emotionen. Injizieren Sie Ihrem Roman Emotionen – indem Sie den Protagonisten mit dem Ziel etwas Persönliches verbinden lassen.
Bei »Der Soldat James Ryan« könnte das so aussehen: Captain Miller hat, wie James Ryan, ebenfalls eine verwitwete Mutter. Und diese hat in den letzten beiden Jahren ihren Mann und ihre beiden Töchter verloren. Miller ist der letzte lebende Verwandte. Er kann sich den Schmerz der Mutter von James Ryan vorstellen, er fühlt mit ihr mit. Und weil er weiß, wie sehr seine eigene Mutter unter seinem Tod leiden würde, erhält das Ziel, einen fremden Mann zu retten, eine persönliche Dimension. Ryan ist eben kein Fremder mehr, weil Miller sich mit ihm verbunden fühlt. Die Rettung des Soldaten wird zu einem persönlichen Anliegen.
Wenn Sie so vorgehen, sollten Sie darauf achten, dass die persönliche Verbindung nicht zu konstruiert wirkt. Unser Beispiel ist da sicher schon grenzwertig. Zugleich dürfen Sie entspannt bleiben: Die wenigsten Leser werden diesen Kniff übertrieben zufällig ansehen, sofern Sie ihn überzeugend und glaubhaft darstellen.
Um das Ziel enger mit dem Protagonisten zu verbinden und dies glaubhafter und weniger konstruiert wirken zu lassen, können Sie diese Verbindung Stück für Stück aufbauen. Das hat außerdem den Vorteil, dass Veränderungen Dynamik in den Roman bringen und so auch für mehr Spannungspotenzial sorgen.
In »Der Soldat James Ryan« könnten wir das so hinbekommen: Während Millers Suchtrupp sich tiefer ins französische Hinterland schlägt, begegnen ihnen immer wieder Soldaten oder Zivilisten, die Ryan kennengelernt haben. Jeder von ihnen erzählt von diesem Soldaten, und mit jedem Puzzlestück setzt sich der anfangs noch fremde Soldat zu einem lebendigen, atmenden und vielleicht sogar guten und liebenswerten Menschen zusammen, der anderen geholfen hat. Das Ziel, James Ryan zu retten, wird mehr und mehr zum Ziel von Miller und seiner Truppe, weil sie einen guten Menschen retten wollen, einen, den sie schon zu kennen glauben, ohne ihn getroffen zu haben. Ach ja, nicht ganz unwichtig: Der Zuschauer/Leser würde dabei diesem Soldaten ebenfalls immer näherkommen und also auch selbst die Rettung stärker und emotionaler herbeiwünschen.
Auch eine überraschende Enthüllung könnte das verordnete Ziel zum persönlichen Ziel des Protagonisten Miller machen. Was könnte das beispielsweise sein? Denken Sie darüber nach. Und vielleicht kommt Ihnen dabei eine perfekte Idee für Ihren eigenen Roman.
Stephan Waldscheidt
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