Die Nähe zwischen Protagonist/Erzähler und dem Leser ist ein wesentlicher Faktor der Erzählperspektive.
Wenn Autoren sich für eine möglichst nahe Erzählweise entscheiden, verfolgen sie damit vor allem diese beiden Ziele: Sie wollen die Leser möglichst tief in die Geschichte hineinziehen und dafür sorgen, dass sie sich mit dem Protagonisten identifizieren: Emotion schlägt Information.
Eine größere Distanz kann dagegen für mehr Objektivität und einen besseren Überblick über das Geschehen sorgen, auch wenn es etwa darum geht, die Taten verschiedener Charaktere möglichst neutral zu beurteilen: Information schlägt Emotion.
Keine der beiden Erzählweisen ist der anderen überlegen, keine ist grundsätzlich populärer bei allen Lesern. Die nahe Erzählweise ist in den letzten Jahrzehnten jedoch sehr viel gängiger geworden, in einigen Genres mehr (Jugendromane / Young Adult), in anderen nicht so sehr (Krimis). Bestseller gibt es in beiden Lagern. Manche Leser wollen in einem Text versinken, andere möchten die Geschichte lieber als unbeteiligter Beobachter genießen. Ein und dieselbe Leserin mag mal das eine, mal das andere lieber, je nach Buch oder Stimmung.
Die Entscheidung, wie nahe Sie die Leser an Ihre Charaktere heranlassen wollen, ist allein Ihre.
Bei der praktischen Gestaltung Ihres Romans ist es meist sinnvoll, wenn Sie Nähe und Distanz als Pole betrachten, zwischen denen Sie sich je nach den Erfordernissen der Story, des Themas, der Charaktere, der Ereignisse oder einer bestimmten Situation hin und her bewegen.
Dennoch sollten Sie dabei nicht zu krass oder wahllos vorgehen. Am Anfang und am Ende einer Szene die Distanz zu wechseln, stört die Leser nicht. Anders sieht es aus, wenn Sie während der Szene häufiger auf den Charakter ein- oder aus dem Charakter herauszoomen. Damit verwässern Sie erstens die Erzählperspektive an sich – die Sie ja aus einem guten Grund gewählt hatten –, arbeiten also gegen Ihre ursprünglichen Absichten. Zweitens verhindern Sie, dass die Leser einen festen Standpunkt dem Protagonisten gegenüber einnehmen können, da Sie sie mal nahe an ihn heranlassen, mal wieder von ihm entfernen, und das wieder und wieder.
Darunter leidet insbesondere die sehr nahe Erzählperspektive. Denn die intime Nähe zu einem Charakter funktioniert nur langfristig als immersives Instrument und zur Identifikation. Mit jeder Unterbrechung zerstören Sie dieses empfindliche Verhältnis.
Die größte Nähe erreichen Sie mit einem Ich-Erzähler, die größte Distanz mit einem allwissenden, objektiven und unsichtbaren Erzähler. Theoretisch. Denn daneben kommt es auf weitere Faktoren an, die den Leser näher an die Geschichte heranbringen oder ihn weiter von ihr fortrücken. So kann ein sehr naher Erzähler in der dritten Person für weniger Distanz sorgen als ein Ich-Erzähler, etwa wenn dieser auf den Leser unsympathisch wirkt oder ihn mit einer nur schwer zugänglichen Sprache oder Wortwahl oder einer sehr fremden Weltsicht auf Distanz hält.
Das heißt: Einfach nur einen Ich-Erzähler beschäftigen und dann darauf hoffen, dass sich größtmögliche Nähe zum Leser automatisch einstellt? Das funktioniert nicht. Sicher kennen auch Sie Ich-Erzähler aus eigener Lese-Erfahrung, mit denen Sie nicht warm geworden sind. Oder drittpersonale Erzähler, die Sie zu Tränen gerührt haben.
Nähe und Distanz bei der Perspektive können Sie sich auch über folgende Unterscheidung bewusster machen: Wenn Sie Ihren Roman nahe erzählen, ist das eher ein Erzählen von innen nach außen. Ausgangspunkt ist der Charakter, der die Story erlebt, und er schildert (dem Leser) seine Eindrücke.
Erzählen Sie den Roman hingegen distanziert, sehen Sie Ihren Charakter zunächst von außen und gehen dann in ihn hinein oder erlauben dem Leser zumindest qualifiziertes Spekulieren über das Innenleben des Charakters – Sie erzählen von außen nach innen.
Übrigens: Beim Erzählen von innen nach außen ist der Roman dem Film überlegen (Hurra!). Wie unter anderem »Room« (Roman 2010, Film 2015) zeigt. Die Erzählperspektive eines Fünfjährigen und seine eingeschränkte Sicht der Welt kann nicht ins Filmische übertragen werden. Dort sehen wir den Jungen von außen und wir erkennen den Himmel als solchen, wenn wir ihn auf der Kinoleinwand sehen, auch wenn der Junge das aus seiner Sicht nicht tut – Verneinungen sind mit Bilder kaum möglich. Mehr noch: Mit der Kamera ist eine dritte Person oder eben der Zuschauer mit im »Room«, was die Dynamik komplett verändert. Diese Distanz lässt sich auch durch Großaufnahmen der Gesichter nicht in Nähe verwandeln.
Diese Nähe erzeugen, das können nur Sie als Autorin oder Autor. Tun Sie es richtig.
Stephan Waldscheidt
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Abschied?
Ja, dies ist der letzte Artikel von Stephan Waldscheidt in der Selfpublisherbibel. Fast hundert sind es geworden; dreieinhalb Jahre lang hat Sie der Autoren-Flüsterer hier begleitet. Sein erster Artikel erschien im März 2015. Wenn Sie weiterhin regelmäßig dazulernen wollen, folgen Sie ihm doch auf seinem Blog schriftzeit.de! Oder tragen Sie sich direkt in den Newsletter ein. Mit dem Abonnement erhalten Sie außerdem exklusiven Zugang zu allen 700+ Artikeln übers Schreiben auf schriftzeit.de.
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