Atmosphäre? Kommt natürlich aus dem Altgriechischen und bringt Dampf, Dunst oder Hauch (atmos) mit der Kugel (sphaira) zusammen. Für Sie als Romanautor ist es der unsichtbare und körperlose allgegenwärtige Dunst, der über den Schauplätzen Ihres Romans liegt. Es ist zum einen die Stimmung, die dieser Schauplatz ausstrahlt, und zum anderen die Wirkung, die diese Stimmung auf Charaktere und/oder den Leser ausübt.
Bei der Atmosphäre wirken mehrere Dinge auf eine neue Art zusammen, etwa Gegenstände, die Lichtstimmung, ein Geruch und Gefühle. Das heißt, dass Sie zum Erzeugen einer bestimmten Atmosphäre verschiedenste Dinge zusammenführen, indem Sie die Eindrücke mehrerer Sinne miteinander verbinden: Was sieht unser Protagonist Julian, als er die Kneipe betritt? Das Licht ist zu hart und weiß, weil der Wirt seit Jahren nur drei nackte Glühbirnen an der Decke hängen hat. Welcher Geruch liegt in der Luft? Welche Musik schallt Julian entgegen? Oder plärrt ein Fernseher permanent die Spiele der Premier League von der Wand?
Die Wahrnehmung ist nur ein Anfang und nur einer von vielen möglichen. Je mehr unterschiedliche Aspekte Sie beschreiben, desto dichter wird der Eindruck, den die Szenerie vermittelt.
Wie etwa Erinnerungen und Gefühle. So erinnert der Geruch nach kaltem Tabakrauch und Bier Julian daran, wie er in seiner Jugend von seinem an den Rollstuhl gefesselten großen Bruder Nick in die Kneipe zum Zigarettenholen geschickt wurde – und daran, wie sehr er diesen Gang gehasst hat. Denn mehr noch als für sich hat er sich für seinen Bruder geschämt. Als könnte jeder Gast am Tresen durch ihn hindurchsehen und den hilflosen Nick erkennen, der zu Hause saß, Kette rauchte und Kette aß und immer dicker und verbitterter wurde.
Die Atmosphäre erhält durch diese unschönen Erinnerungen eine negative Gestimmtheit.
Ob Sie die Atmosphäre stark genug beschreiben, erkennen Sie an einem Indiz: Eine starke Atmosphäre wirkt sich – ganz ohne Ihr Zutun, also ohne es zu erzwingen – auch auf den Charakter aus und lässt ihn etwas fühlen, etwas sagen oder so handeln, wie er es bei einer anderen Atmosphäre eben nicht getan hätte.
Julian, der nach zwanzig Jahren diese Kneipe zum ersten Mal wieder betritt, betreten muss, ist sofort gestresst. Sein Blick geht automatisch zu der Stelle, wo der Zigarettenautomat stand. Dort steht jetzt ein zugestaubter Glücksspielkasten. Die blinkenden Lichter nerven Julian. Er ist hier, weil er den Wirt etwas fragen muss, ein altes Geheimnis über Nicks Unfall, der ihn in den Rollstuhl brachte, verlangt nach Aufklärung. Julian kennt den Wirt, es ist derselbe Mann, doch er scheint kaum gealtert, im Gegenteil, er wirkt fitter als früher. Julian findet das auf sonderbare Art ungerecht. Er tritt an den Tresen und verlangt ein Bier. Er verlangt eins, richtig, sein Tonfall ist unfreundlich. Es ist die Atmosphäre, die dafür sorgt, dass er das Gespräch auf einer falschen Note beginnt. Das Gespräch verläuft entsprechend konfliktbeladen.
Apropos Konflikte. Die Atmosphäre ist eine wunderbare Gelegenheit, Ihren Roman mit mehr Spannung aufzuladen – und zwar ohne direkte Konflikte. Eine spannende Atmosphäre vermittelt das Gefühl, jeden Moment könnte etwas passieren, könne sich ein Konflikt aufbauen, könne die unterschwellige Spannung an die Oberfläche gelangen.
Nehmen wir unseren Julian. Er nimmt die Kneipe als einen unfreundlichen, ja, feindseligen Ort wahr. Als er sie betritt, gibt es für ihn noch keinen direkten Konflikt. Was der Leser mittels Julians Eindrücken und Erinnerungen spürt, ist lediglich das Potenzial von Konflikten. Dieses Potenzial aber hat es in sich: Es baut eine Erwartung im Leser auf. Dieser spürt, dass jeden Moment ein Konflikt ausbrechen wird, sobald Julian etwas tut oder sagt oder mit jemandem in Kontakt tritt.
Durch die richtige Atmosphäre können Sie Spannung aufbauen, noch bevor sich ein Konflikt entwickelt oder etwas Aufregendes geschieht. Sie können mit der Atmosphäre kommende Konflikte vorausdeuten.
Auch können Sie den Leser überraschen. Bauen wir dazu unser Beispiel um. Julian betritt die Kneipe, mit der er vor allem positive Erinnerungen verbindet. In seiner Jugend hat er hier seine erste Freundin kennengelernt, er hat sich mit seinen Kumpels zum Billard getroffen und der Tochter des Wirts am Tresen seinen Liebeskummer mit ebenjener Freundin gestanden – die Wirtstochter wurde dann Freundin Nummer zwei.
Guter Dinge betritt Julian die Kneipe, sieht erfreut, dass die Billardtische noch immer dastehen und in gutem Zustand sind. Er erkennt sogar einen seiner Kumpels wieder. Doch als er grinsend auf ihn zusteuert – »He, Alter, was geht!« –, wird dieser Kumpel vor Julians Augen niedergestochen.
Der Autor hat den Leser durch die Atmosphäre in falscher Sicherheit gewiegt. Und ihm dann hinterrücks den Spannungsdolch in den Leib gerammt.
Ein ganz zentraler Aspekt bei der Schaffung einer bestimmten Atmosphäre ist die Sprache: hier vor allem der Erzählton und die Wortwahl.
Ein gehetzt klingender, schlecht gelaunt wirkender Erzähler sorgt für eine andere Atmosphäre als einer, der die Szenerie aus einer ironischen Distanz betrachtet und beschreibt.
Wortwahl? Ist doch selbstverständlich: Wörter wie »Finsternis«, »bestialisch«, »Blut«, »Grabschändung« und »erdrosseln« sorgen für eine andere Atmosphäre, als wenn Sie in Ihrer Beschreibung des Schauplatzes von »Vogelgezwitscher«, »Kräuterduft«, »träumen«, »schläfrig« und »Sonnenschein« schreiben.
Weit weniger selbstverständlich ist, wie entscheidend die Art der verwendeten Wörter ist. Weniger erfahrene Autoren (oder schlechtere, ich muss es so hart schreiben) neigen dazu, die Atmosphäre vor allem mit reichlich Adjektiven aufbauen zu wollen. Die aber sorgen beim Leser für einen unscharfen, statischen und vor allem wenig emotionalen Eindruck der Szenerie – und oft für einen Schauplatz, den der Leser schon tausend Mal betreten hat, eben in all den anderen zum Klischee erstarrten Settings. Das Adjektiv ist die Wortart für Grobmotoriker – die unter den Autoren wie unter den Lesern.
Um eine Atmosphäre tief in den Leser hineinzuschreiben, verwenden Sie starke Verben und spezifische Substantive. Adjektive dürfen sein, aber bitte gezielt und nur dann, wenn diese etwas Eigenes beitragen, etwa für einen Kontrast sorgen (ein »sanftes Mordwerkzeug«), aus dem Klischee ausbrechen (ein »leckerer Polizeikaffee«) oder das Substantiv tatsächlich bereichern (»luftgekühlter Sechszylinder«).
Von solchen Wörtern beschrieben, strahlt der Schauplatz dann eben nicht nur eine Atmosphäre aus – er erwacht zum Leben. Und nur ein lebendiger Schauplatz (der Bogen zu oben) hat die Kraft, die Charaktere zum Handeln zu treiben, zu Konflikten und zu Veränderungen.
Atmosphäre ist keine Kulisse, die Sie in den Hintergrund Ihrer Szene schieben. Atmosphäre ist ein Geruch, der in die Kleider Ihrer Romanfiguren und in die Poren der Geschichte eindringt, sie ist in das Geflecht Ihres Romans verwoben und mit allem darin verbunden. Nur dann verbindet sie sich auch mit dem Leser.
Stephan Waldscheidt
Als John Alba schreibt er Mystery-Thriller. Zuletzt erschienen: KESSEL.
Wer gewinnt den Kampf um deine Seele – deine Liebe oder dein Hass? Als der sechzehnjährige Tobias mit Rachegedanken und einer Pistole nachts zu seinem brutalen Vater fährt, läuft ihm eine nackte Frau ins Auto. Die Frau sieht aus wie eine seiner Lehrerinnen – und sie sollte tot sein. Bei dem Versuch, das dunkle Geheimnis aufzuklären, geraten Tobias und seine Freunde in einen Strudel aus Liebe und Hass, Verschwörung und Mord. Ihr Versteck, eine aufgelassene Brauerei in einem einsamen Schwarzwaldtal, wird dabei zum Zentrum immer unheimlicherer Ereignisse. Weltweit tauchen Menschen auf, die tot sein sollten. Der Versuch der Freunde, mehr über das Rätsel zu erfahren, weckt etwas auf, das im Tode lauert. Etwas Grauenvolles. Wie lange noch, bis es die Freunde bemerkt? Oder hat es das längst?
»John Alba ist ein herausragender Autor. Er hebt sich von den anderen deutschen Krimi- und Thriller-Autoren ab und kann sich mit den Top-US-Thriller-Autoren auf jeden Fall messen.« (RW)
John Alba. KESSEL. Mystery-Thriller, Paperback. Auch als E-Book für Tolino u.a.