Schreib-Tipp: Wann Dummheit gut und wann sie gefährlich für Ihren Roman ist

Dummheit ist keine Schande. Es sei denn, Sie wollen bei »Wer wird Millionär?« abräumen. Oder als Protagonist die Leser eines Romans begeistern. Wieso das so ist und wie Sie mit Dummheit sehr erfolgreich arbeiten können, sehen wir uns genauer an.

Fall 1: Eine Nebenfigur ist ziemlich dämlich.

Was heißt dumm oder dämlich? Eine dämliche Figur macht mit hoher Wahrscheinlichkeit Fehler: Ihm unterlaufen Missgeschicke, sie verplappert sich, er versteht etwas falsch und handelt entsprechend, sie tut etwas gegen ihre eigenen Interessen und so weiter und so fort.

Übersetzt in die Sprache der Romanautoren heißt das: Dumme Nebenfiguren sind eine wunderbare Quelle für Konflikte. Diese sorgen in dramatischen Geschichten für mehr Spannung, in Komödien für mehr Ent-Spannung, also für mehr Witz.

Fall 2: Eine Hauptfigur ist ziemlich dämlich.

Hier wird die Dummheit gefährlicher. Weil die Konsequenzen sich einerseits stärker auf den Roman auswirken und andererseits deutlicher in den Fokus der Leser rücken.

Die vier wichtigsten Varianten dieses Falls sehen wir uns am konkreten Beispiel an, an der ersten Staffel der TV-Serie »Top of the Lake« (Großbritannien, Neuseeland 2012). Darin verschwindet die Zwölfjährige Tui nach einem Selbstmordversuch von daheim, einer Kleinstadt in einem einsamen Teil Neuseelands. Was die Sache noch dramatischer macht: Tui ist schwanger und niemand weiß, wer der Kindsvater ist. Während die Polizei ermittelt und dabei Tuis krimineller Vater in den Fokus gerät, vergehen die Monate.

Protagonistin ist die Ermittlerin Robin, die in den Fall eher zufällig hineingezogen wird. Sie besucht gerade ihre todkranke Mutter, als sie von Tuis Selbstmordversuch erfährt. Da sie Spezialistin für Kindesmissbrauch ist, drängt sie sich der örtlichen Polizei als Unterstützung auf.

Variante A: Gelegentliche Dummheit ist lebensnah.

Die Art, wie Robin sich in die Ermittlungen einmischt, ist nicht sehr klug. Sie berücksichtigt die lokalen Verhältnisse in der Polizei zu wenig und stößt sofort auf Widerstände.

Diese Variante von »Dummheit« schadet der Geschichte nicht. Im Gegenteil. Die daraus resultierenden Fehler sorgen, wie oben bei den Nebenfiguren beschrieben, zunächst für mehr Konflikte. Darüber hinaus machen sie sowohl die Story glaubhafter und lebensechter als auch die Protagonistin lebendiger und menschlicher.

Man könnte hier auch Fälle hinzurechnen à la »Jeder von uns hat mal einen schlechten, um nicht zu sagen: einen dummen Tag«.

Variante B: Manche Dummheit ist dem Charakter eingeschrieben.

Manch dummen Fehler begehen Menschen, weil sie nicht anders können, wegen einer bestimmten Vorgeschichte oder weil ihre besonderen Eigenschaften diese Fehler fördern.

Eine nicht sehr kluge Entscheidung der Ermittlerin Robin ist es, ausgerechnet mit dem Sohn des Hauptverdächtigen, Tuis Vater, eine Affäre anzufangen. Doch da diese Affäre für den Zuschauer nachvollziehbar ist, wird der Fehler nicht als Fehler, die Dummheit nicht als Dummheit gewertet. Sie stößt vielmehr auf Verständnis, insbesondere, weil der Zuschauer Robins Vorgeschichte kennt: Der Mann, Johnno Mitcham, ist Robins Jugendliebe.

Ebenso dumm verhält sich Robin, als sie in einer Kneipe einen Streit provoziert. Als Polizistin sollte sie so etwas tunlichst lassen. Doch auch diese Dummheit ergibt sich aus Robins Vorgeschichte. Wie man später erfahren wird, wurde sie als Teenager von mehreren Männern vergewaltigt. Dazu gehörte auch einer der Typen in der Kneipe.

Variante C: Dummheit ohne Wiederkehr.

Dann gibt es Dummheiten und Fehler, die unumkehrbar sind. Oft misst der Leser oder Zuschauer diese an moralischen Maßstäben. Als Robin gegen Ende der Geschichte die Hintergründe hinter Tuis Schwangerschaft durchschaut, einen Ring von Kinderpornografen, wird sie so wütend, dass sie einen unumkehrbaren Fehler begeht: Sie erschießt einen der Verantwortlichen.

Juristisch gesehen ist das eine gewaltige Dummheit, doch da die meisten Zuschauer die Tat moralisch nachvollziehen, wenn auch nicht unbedingt gutheißen mögen, kommt die Protagonistin damit durch. Und damit auch die Autorin oder der Autor.

Variante D: Unverzeihliche Dummheit.

Doch es gibt Fehler, die der Leser oder Zuschauer nicht verzeihen kann. Robin hat mehr als einen solchen begangen, weshalb die Serie trotz euphorischer Kritiken und vieler guter Aspekte bei mir durchgefallen ist.

Robin findet heraus, dass Jamie, einer der Freunde der verschwundenen Tui, regelmäßig mit einem kleinen Boot über den See fährt. Sie befragt ihn, er aber behauptet, er würde nur angeln und wüsste nicht, wo Tui steckt. Robin ahnt, dass er lügt, kann ihm aber nichts nachweisen. Sie vermutet, dass Tui sich in den Wäldern auf der anderen Seeseite versteckt und Jamie ihr regelmäßig Proviant bringt.

Was würde jeder halbwegs intelligente Ermittler in so einem Fall tun? Ganz klar, das weiß sogar ich als Laie: Jamie beobachten und ihm folgen.

Bloß tut das Robin nicht und leitet auch keine Beschattung in die Wege. Später stellt sich heraus, dass es sich tatsächlich genau wie erwartet verhielt: Jamie versorgte Tui mit Vorräten.

Was bedeutet dieser gewaltige Fehler, diese Riesendummheit von Robin?

Entweder bucht der Zuschauer sie ab: dümmer als die Polizei erlaubt. Das erschüttert das Verhältnis des Zuschauers oder Leser zur Hauptfigur. Und schlimmstenfalls so sehr, dass Interesse und emotionales Engagement stark genug abnehmen, um das Buch wegzulegen oder den Fernseher auf »Family Guy« umzuschalten.

Oder der Leser oder Zuschauer bucht den Autor ab. Denn Robin wurde ja als kompetent und intelligent eingeführt. Dem Zuschauer wurde ihre Klugheit mehrfach vor Augen geführt. Ein solcher Fehler wie der mit Jamie wirkt daher unglaubhaft: »Robin«, sagt der Zuschauer, »würde diese Dummheit nicht begehen!« In dem Fall wird der Leser/Zuschauer aus der Geschichte gerissen. Denn er sollte glauben, was da auf der Seite oder dem Schirm passiert. Und sich über den Autor und seine Fehler und Versäumnisse sollte er sich keine Gedanken machen.

Unglaubhafte Dummheit kann auf den Leser oder Zuschauer auch die Wirkung haben, dass sie als vom Autor herbeigeschrieben daherkommt, vergleichbar etwa mit »Zufällen«, die es im Roman ja nicht gibt, sondern die immer auf dem Mist des Autors gewachsen sind (und daher hier in Anführungszeichen stehen).

Und dann gibt es noch Fall 3: Der Antagonist ist ziemlich dämlich. Mit Ausnahme von Komödien haben Sie hier leider keinen Roman. Dumm gelaufen.

Stephan Waldscheidt

Spannung ist nicht nur etwas für Spannungsromane und Thriller. Jeder Roman braucht Spannung. Und Ihrer noch viel mehr davon. Egal, welches Genre Sie beackern. Oder wollen Sie etwa nicht, dass Ihre Leser umblättern? Der neue Ratgeber »Spannung & Suspense – Die Spannungsformel für jedes Genre (Meisterkurs Romane schreiben)« gibt Ihnen vielfältige Instrumente in die Hand, die Sie nirgendwo sonst finden.

  • Spannung und Suspense durchschauen und präzise einsetzen.
  • Spannung effektiv variieren, halten, steigern.
  • Spannungslücken finden und beheben.
  • Spannung meistern in jedem Genre, Untergenre oder Genre-Mix.

»Brillant« (Isabell Schmitt-Egner), »Großartig« (J. Siemens), »Toll« (Jenny Benkau), »Öffnet die Augen« (Margit Gieszer), »Meisterwerk« (Alexandra Sobottka)

PaperbackKindle-E-Bookepub-E-Book