Schreib-Tipp: Wer ist die wahre Hauptfigur Ihres Romans?

Keine Entscheidung, die Sie bei Ihrem Roman treffen, hat unmittelbarere Auswirkungen als die der Erzählperspektive. Dabei geht es um viel mehr als um die Frage, ob man lieber »sie sagte« oder »ich sagte« schreibt, es geht um viel mehr als um die Konsistenz des Point-of-view oder um ein Vermeiden von Head Hopping. Mit der Perspektive entscheiden Sie sich dafür, mit welcher Stimme Ihr Roman zu seinen Lesern spricht.

Die Frage nach der Erzählperspektive ist, vor allem anderen, die Frage nach dem Erzähler oder der Erzählerin.

Sehen wir uns mal einige klassische Anfänge an.

Ilsebill salzte nach, beginnt Günter Grass seinen »Butt« (Luchterhand 1977).

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt, setzt Kafkas »Die Verwandlung« in Gang.

Oder hier Janosch mit »Lari Fari Mogelzahn«: In der Mottengasse elf, oben unter dem Dach hinter dem siebten Balken in dem Haus, wo der alte Eisenbahnsignalvorsteher Herr Gleisenagel wohnt, steht eine sehr geheimnisvolle Kiste. (Beltz 1998)

Oder auch einige aktuellere:

Entweder mache ich mir Sorgen oder was zu essen. (Ildikó von Kürthy, »Blaue Wunder«, Rowohlt 2005)

In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und her geworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern. So klingen Hexen, wenn sie brennen, dachte Vera, oder Kinder, wenn sie sich die Finger klemmen. (Dörte Hansen, »Altes Land«, Penguin 2016)

Noch berühmter, aber eben hier nur Übersetzungen, sind diese Anfänge:

Nennt mich Ismael, so der Erzähler zu Beginn von Melvilles »Moby Dick«.

Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, dass ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet haben wollten.

So der Erzähler zu Beginn von Charles Dickens’ »Eine Geschichte aus zwei Städten«.

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Loo – Lii – Ta: die Spitze der Zunge geht auf eine Tour, drei Stufen hinunter vom Gaumen, und ist bei drei an den Zähnen. Lo. Lii. Ta. (Vladimir Nabokov, »Lolita«, Rowohlt 1959.)

Er war ein alter Mann und er fischte allein in einem Boot im Golfstrom, und seit vierundachtzig Tagen hatte er keinen Fisch gefangen. (Ernest Hemingway, »Der alte Mann und das Meer«, Rowohlt 1952.)

In all diesen Beispielen gibt der Erzähler dem Leser des Romans mehr mit als nur den Inhalt des Geschriebenen, auch in scheinbar »stimmenlosen« Anfängen wie Hemingways oder Grass’. Erst im Vergleich der so sehr unterschiedlichen Texte erkennt man, dass es einen stimmlosen Erzähler nicht gibt. Auch die Wortwahl definiert ihn und diese Wahl meint eben nicht nur die Entscheidung zwischen Synonymen. Sondern auch die Auswahl dessen, was er überhaupt schilder und was nicht wie die, bei Grass etwa die Entscheidung, dem Leser als Erstes eine Frau beim Nachsalzen zu präsentieren.

Der Erzähler ist die eigentliche, die wahre Hauptfigur Ihres Romans – selbst wenn er nur eine Nebenrolle spielt wie Nick in »Der große Gatsby« oder gar nicht darin vorkommt. Denn das, was beim Leser ankommt, wurde vom Erzähler schon interpretiert und kuratiert. Das geschieht mal ganz offen, etwa bei auktorialen Erzählern oder auch bei personalen Erzählern mit einer starken Stimme, die sich nicht versteckt. Oder es geschieht klammheimlich, wenn der Erzähler scheinbar ganz hinter der Geschichte verschwindet. Wie oben in dem Beispiel aus »Origin«. Aber das tut er nicht. Der Leser soll das nur glauben. Auch das ist ein Trick, einer, der Objektivität vorgaukelt, wo doch nur Subjektivität herrscht. Jedes Wort ist eine Entscheidung des Erzählers – für dieses Wort, das er allen anderen vorzieht, die an der Stelle ebenfalls hätten stehen können.

Der Erzähler ist das Erste, was Ihr Leser vom eigentlichen Roman wahrnimmt (nach Cover mit Klappentext/Blurbs und Titel). Genauer gesagt: seine (oder ihre) Stimme. Das heißt, ja, der Inhalt Ihrer ersten Sätze ist wichtig. Doch die Stimme, die diesen Inhalt überbringt, ist ebenso bedeutsam. Eine starke Stimme, die den Leser sofort überzeugt, die ihn in den Roman einlädt und ihn seinen Unglauben ablegen lässt (»Ich weiß, es ist nur eine Geschichte, aber für die Dauer des Buchs tue ich so, als würde ich sie glauben.«), eine solche Stimme kann eine inhaltlich wenig besondere erste Seite zu etwas Besonderem machen. Zu etwas, was den Leser einfängt und ihn, falls noch nicht geschehen, zum Käufer Ihres Buchs werden lässt.

Es gibt dazu keine Alternative. Weil es den stimmlosen Erzähler nicht gibt. Allerdings gibt es extrem sprachunempfindliche Leser. Doch auf diese sollten Sie sich nicht verlassen. Ein guter Erzähler verschmilzt die Sprache mit der Story, durch ihn wird aus Wörtern eine Geschichte und aus einer Geschichte Literatur.

Sie sollten Ihren Roman nicht von irgendwem erzählen lassen. Oder würden Sie Ihre Kinder jedem Dahergelaufenen anvertrauen?

Stephan Waldscheidt

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