Margaret Atwood beendet ihre Kurzgeschichte »Happy Endings« mit diesen Worten: »So viel zu Enden. Anfänge machen immer mehr Spaß. Wahre Kenner jedoch sind bekannt dafür, die Strecke dazwischen zu bevorzugen, denn damit etwas anzufangen, ist am schwierigsten. Das ist so ziemlich alles, was man Gutes über Plots sagen kann, die sowieso nur eine Sache nach der anderen sind, ein Was und ein Was und ein Was.« (in: »Murder in the Dark«, Coach House 1983 / eigene Übersetzung.
Leider nehmen zu viele Autoren Atwood hier beim Wort. Bei ihnen gerät das, was zwischen Anfang und Ende läuft, tatsächlich zu einer einzigen Abfolge an Was: A passiert, dann passiert B, dann C, gefolgt von D und E, worauf F, G, H und I sich anschließen, bevor J, K, L und M kommen. Und immer so weiter, bis die »Geschichte« (wohlgemerkt: in Anführungszeichen) ihr Ende hat. Leser schaffen es selten bis dahin. Warum? Was ist eine Story oder ein Roman denn anderes als eine Abfolge an Ereignissen, an Handlung? Ist viel Handlung denn nicht gerade das Kennzeichen eines guten Romans?
Stellen Sie sich einen Roman wie einen Läufer mit zwei Beinen vor. Die Handlung ist dabei nur ein Bein. Er kommt damit zwar voran, aber es ist mühselig, er fällt häufig auf die Nase und auf Dauer wird das sowieso nichts. Das andere Bein ist die Reaktion der Charaktere auf die Handlung, insbesondere des Protagonisten oder des Point-of-View-Charakters, aus dessen Perspektive jeweils erzählt wird.
Bei den Reaktionen kann man drei Arten unterscheiden: emotionale, intellektuelle und implizierte Reaktionen.
Eine emotionale Reaktion ist beispielsweise Bennys Wut nach einer ungerechten Behandlung durch seine Mutter. Damit der Roman von da an weiterlaufen kann, braucht er das Aktionsbein. Das geschieht, indem Bennys Wut zu einer Handlung führt, etwa einem blinden Stürzen aus dem Zimmer und dem Zuknallen der Tür. Der Knall ist so heftig, dass Bennys kleine Schwester Marta, die draußen gespielt hat, anfängt zu weinen. Der Roman läuft weiter, etwa indem Benny jetzt mit einer intellektuellen Reaktion aufwartet: Er erkennt sein Handeln als kindisch – er ist ja schon elf! – und – die nächste Handlung – er geht zu seiner Schwester und tröstet sie. Das Spielen sorgt dafür, dass Benny sich entspannt und als Marta ihn anstrahlt, selber wieder lächelt. Den Vorgang, der zwischen dem Angestrahltwerden und Bennys Lächeln steht, lassen Sie einfach mal unter den Tisch fallen. Alles brauchen Sie nicht im Detail darzustellen, viele Reaktionen sind nachvollziehbar und der Leser kann sie sich ausmalen. Hier implizieren Sie die Reaktion des Charakters einfach.
Wichtig ist, dass sich ein natürlich wirkender Ablauf ergibt und dass der Roman weiter voranschreitet. Nicht jeden Schritt müssen Sie dem Leser zeigen, aber manche Schritte sind eben so wichtig, dass Sie sie zeigen sollten.
Das gilt insbesondere für unerwartete Reaktionen, für Reaktionen auf extreme Ereignisse und für Reaktionen, die etwas Wichtiges über den Charakter verraten. Und natürlich für Wendungen, die den Roman in einen neuen Tritt zwingen.
Doch nicht bei allen Autoren oder Romanen, die Schwierigkeiten mit dem richtigen Vorankommen haben, liegt es in der deutlichen Bevorzugung des Aktionsbeins. Es gibt eben auch Romane, in denen die Charaktere auf dem Reaktionsbein hüpfen: sich mehr mit Innensicht und Grübeleien, mit Wünschen, Ideen und Plänen befassen, mit Gefühlen für dies und gegen jenes, sodass sie das Aktionsbein hinterherschleifen und fast gar nicht vorankommen.
In Ihrem Roman brauchen Sie beide Beine, selbst wenn Sie eins bevorzugen. Finden Sie heraus, welches das ist. Auf diese Weise können Sie das andere Bein bewusster steuern und eben auch immer wieder zur Aktivität anstoßen.
Die Kurzgeschichte von Atwood endet übrigens gar nicht mit den obigen Worten. Sie fügt noch einen entscheidenden Satz hinzu:
»Jetzt versuchen Sie mal Wie und Warum.«
Und ein Plot ist keineswegs nur ein Was und Was und Was. Das Wie und Warum gehören untrennbar dazu. Eben wie in Ihrem Roman.
Stephan Waldscheidt
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