Schreib-Tipp: Wie Sie dem Leser immer einen Schritt vorausbleiben

Rosita hält eine Abschiedsrede. Nur für Sasha. Die beiden Frauen sitzten in einem verlassenen Haus, direkt gegenüber des Kraftwerks, in dem Oberschurke Negan residiert. Die beiden Frauen vereint und trennt die Liebe zu einem inzwischen verstorbenen Mann. Vor allem wegen dieser Liebe sind sie hier, wegen der Liebe und dem Tod. Sie wollen Abraham rächen, indem sie Negan töten. Ein Himmelfahrtskommando direkt ins Herz der Finsternis.

Wir sind in der siebten Staffel von »The Walking Dead«, in der vorvorletzten Episode (»The Other Side«, Regie: Michael E. Satrazemis; Drehbuch: Angela Kang). Sprich: Es wird vermutlich Tote geben unter den Heldinnen und Helden und den wichtigsten Gegenspielern.

(Achtung, Spoileralarm – wer die siebente Staffel noch nicht gesehen hat, lese bitte nicht weiter)

Sasha hört zu, sagt mal das eine oder andere. Es ist eine bewegende Rede, die Rosita da hält, auch wenn das Gesagte nicht als Rede gedacht ist. Beim Zuschauer kommt es jedoch so an. Der Zuschauer nämlich ist klüger geworden im Lauf der Serienzeit. Er hat gelernt, dass den wichtigsten Charakteren Abschiedsreden gestattet sind, bevor sie ins Gras beißen, respektive vom grasüberwachsenen Zombie gebissen werden. Etwa wie die von Denise in der sechsten Staffel, die Daryl und Rosita etwas Wichtiges darüber sagen durfte, was für Menschen sie in ihrem Kern sind – bevor sie ein Pfeil tötete, mitten im Satz. Oder bei Coppolas »Der Pate«, wo Vito Corleone seinen Sohn Michael noch vor einem Verrat in den eigenen Reihen warnen kann, bevor er im Tomatenbeet das Zeitliche segnet.

Jetzt also hat Rosita etwas Wichtiges zu sagen. Der Zuschauer hört zu und fühlt sich clever. Und das ist gut und wichtig so. Ein großer Fehler, den Sie als Autor begehen können, ist dem Zuschauer niemals dieses Gefühl zu geben. Wenn Sie immer nur Überraschungen präsentieren, die man nicht vorhersehen kann, frustriert das den Leser mit der Zeit. Sie kennen das ja selbst: Niemand will sich permanent für dumm halten müssen.

Also gönnen Sie Ihren Leser dann und wann solche kleinen Triumphe – bevor Sie sie dann doch wieder überraschen. Wie hier eben auch die Macher von »The Walking Dead«.

Denn Rositas Abschiedsrede entpuppt sich als … Sashas Abschiedsrede. Obwohl es Sasha war, die immer wieder in Aussicht stellte, sie könnten den Anschlag auf Negan überleben, und obwohl es Rosita war, deren blinde und sture Entschlossenheit wie Todessehnsucht anmuten musste, ist es jetzt Sasha, die sich in Negans Hauptquartier schleicht – und Rosita mit einem Trick daran hindert, ihr zu folgen. Das mutmaßliche Todeskommando ist tatsächlich eins. Aber es ist nicht Rosita, die dem Tod ins Auge blicken wird. Sondern Sasha. (Wie die Sache ausgeht, das dürfen Sie sich selbst anschauen. Und das sollten Sie. In kaum einer TV-Serie kann man als Autor so viel fürs eigene Schreiben, in jedem Genre, lernen wie bei »The Walking Dead«.)

Was ist schreibtechnisch passiert? Autorin Angela Kang wusste, was der Zuschauer erwarten würde. Sie wusste, dass der aufmerksame Zuschauer (und nach sieben Staffeln sind das die meisten) Rositas Rede als Abschiedsrede vor dem Ableben erkennen würde. Und hat das dazu ausgenutzt, den Zuschauer zu überraschen. Und zwar auf eine gute Art und Weise, nämlich ebenso unvorhergesehen wie glaubhaft. Die Autorin war ihrem Publikum einen Schritt voraus, den entscheidenden.

Darum geht es oft, wenn Sie Ihre Leser überraschen wollen. Dazu müssen Sie vorausahnen, was die Leser denken. Das ist in vielen Fällen schwierig. Erleichtern können Sie es sich mit einem Kniff: Steuern Sie das, was die Leser denken, von Anfang an.

Wie das konkret aussehen könnte, auch das sagt uns das Beispiel aus »The Walking Dead«. Nehmen wir an, Sie wollen die Leser glauben machen, Rosita würde in den Tod stürmen. Tatsächlich aber soll Sasha diesen Part übernehmen. Damit die Überraschung funktioniert, schreiben Sie die Abschiedsrede für Rosita. So weit haben wir das bei »The Walking Dead« gesehen. Nun aber sind Sie Herrin oder Herr über Ihren Roman. Das heißt: Sie können in der Story nach vorne springen und dort etwas einbauen, was im Leser diese falsche Erwartung aufkommen lässt.

Nehmen wir mal an, Sie haben einen Charakter, der weiter vorne im Roman stirbt. In der aktuellen Fassung Ihres Romans stirbt er einfach und überraschend. Sie aber bauen jetzt eine Abschiedsrede ein und töten ihn oder sie erst danach.

Zum Lernen gehört meist mehr als ein einziger Fall. Also sehen Sie nach, ob es noch einen weiteren Tod oder zumindest Abschied vor Ihrer Rosita-Rede gibt. Schreiben Sie dafür ebenfalls eine Abschiedsrede.

Achten Sie darauf, dass das in beiden Fallen Geäußerte möglichst verschieden voneinander ist. Das tun Sie, indem Sie den Begriff »Rede« sehr weit auslegen. So weit, dass das Gesagte nicht wie eine Wiederholung wirkt und zugleich so eng, dass es vom Leser als Rede erkannt und in die gleiche Kategorie gesteckt wird wie Rositas Abschiedsrede am Ende der drei Reden. Wie etwa Vito Corleones Warnung vor dem Verrat.

Auch bei »The Walking Dead« haben Denises Abschiedsrede und Rositas wenig miteinander gemein. Ersteres ist eher eine psychologische Ergründung von Rosita und Daryl, die erst durch die Wichtigkeit und Stringenz des Gesagten den Charakter einer »Rede« erhält. Letzteres ist eine traurige Erinnerung an einen auf tragische Weise ums Leben gekommenen geliebten Menschen. Beides eint die starken Emotionen und die große Bedeutung des Gesagten für die Charaktere, eben etwas, was auch eine gute Rede auszeichnet.

Mit diesem Vorgehen haben Sie sich Ihre Leser so zurechterzogen, dass sie Ihnen in die Falle tappen müssen. Und das auch noch mit Vergnügen tun, weil Sie sie dafür mit einer tollen Überraschung belohnen.

Leser haben jede Belohnung verdient. Schließlich sind sie die Einzigen in Ihrem Leben, die sich nicht nur bereitwillig, sondern sogar gerne von Ihnen nasführen lassen. Das funktioniert ansonsten höchstens bei Katzen (Stichworte: LED-Pointer oder Maus an der Angel).

Stephan Waldscheidt

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