Wir Menschen tun eine Menge dafür, das Belohnungszentrum unseres Gehirns zu aktivieren. Manche nehmen Drogen, andere essen Süßigkeiten oder betreiben Extremsport. Andere lesen. Sicher, Sie belohnen Ihre Leser mit spannender Unterhaltung, mit kontroversen Themen oder einer schönen Sprache. Das allein reicht nicht.
Auch die Dramaturgie kennt die Belohnung. Das sind die wunderbaren Momente eines Romans, wo Geheimnisse enthüllt oder drängende Fragen endlich beantwortet werden. Viele von Ihnen werden dafür die Bezeichnung »plant« – »pay-off« kennen (was zwei nicht zusammenpassende Metaphern sind. Besser finde ich »Einzahlung« und »Auszahlung mit Zinsen«.).
Die Belohnung fällt umso stärker aus …
- je mehr sich der Leser für die Antwort/Auflösung interessiert;
- je länger der auf die Antwort/Auflösung warten muss;
- je stärker sich der Leser mit dem betreffenden positiven Charakter identifiziert;
- je mehr der Leser den betreffenden negativen Charakter hasst;
- je wichtiger die Antwort/Auflösung für die Geschichte ist;
- je überraschender die Antwort/Auflösung ist.
- je dramatischer die Antwort/Auflösung präsentiert wird.
Die sechste Staffel der besten TV-Serie der Welt, »Game Of Thrones«, belohnt den Zuschauer mit genug Auflösungen und Enthüllungen, um damit eine zweite Riesenmauer um ganz Westeros aufzuschütten. Ich habe mir Beispiele herausgepickt, die alle einen anderen Zeitraum überspannen: von der Vorbereitung (Einzahlung) bis zur Auflösung (Auszahlung mit Zinsen). Je länger der Zeitraum ist, desto wichtiger wird es, den Leser zwischenzeitlich an das Geheimnis oder die ungeklärte Frage zu erinnern. (Achtung: Es folgen logischerweise massive Spoiler …)
1. Ramsay Boltons Jagdhunde
Zeitraum: sehr kurz / innerhalb einer Episode.
Vorbereitung: Die Armeen von Jon Snow und Ramsay Bolton stehen sich vor Winterfell gegenüber. Ramsay provoziert Jon. Er droht ihm, sinngemäß: »Ich habe meine Jagdhunde seit sieben Tagen nicht gefüttert. Sie werden sich über deine Schwester Sansa und deinen kleinen Bruder Rickon hermachen.«
Erinnerung: Keine. Was hier auch nicht notwendig ist, da der Leser das Gesagte noch im Gedächtnis hat. Der aufmerksame Zuschauer erinnert sich selbst an die Szene, als Ramsay die Hunde auf seine Stiefmutter und seinen Halbbruder losließ, einen Säugling.
Enthüllung: Am Ende ist Ramsay an einen Stuhl gefesselt – in den Zellen für die Hunde. Sansa Stark lässt seine Hunde frei. Ramsay: »Sie sind loyal.« – Sansa: »Du hast sie seit sieben Tagen nicht gefüttert.«
Belohnung: Der Drecksack Ramsay, der vermutlich übelste Charakter der ganzen Serie, bekommt die eigenen fiesen Worte zurückgeschleudert und erhält seine poetisch gerechte Strafe, hat er doch selbst viele Menschen von seinen Hunden zerreißen lassen.
Bewertung (Übung für Sie): Prüfen Sie die oben genannten Kriterien an der Idee, die Sie für die Auflösung eines Geheimnisses oder der Beantwortung einer Frage in Ihrem Roman haben.
Beispiel Ramsays Hunde:
Interessiert sich der Leser für die Antwort/Auflösung?
- Ja. Er fürchtet, dass Ramsay tun könnte, was er androht.
Ist das Warten angebracht?
- Kaum Warten, dafür hohe Belohnung. Ein gutes Verhältnis.
Identifiziert sich der Leser mit dem betreffenden positiven Charakter?
- Ja. Er fürchtet um Rickon und vor allem um Sansa und Jon.
Hasst der Leser den betreffenden negativen Charakter?
- Und wie.
Ist die Antwort/Auflösung für die Geschichte wichtig?
- Ja. Da es um Leben oder Tod wichtiger Charaktere geht.
Wird die Antwort/Auflösung dramatisch präsentiert?
- Oh, und ob. Die Szene ist nichts für Zartbesaitete (womit sie gut in die Serie passt, die insgesamt nichts für Sensibelchen ist).
2. Arya Stark besiegt »The Waif«
Zeitraum: kurz / mehrere Episoden.
Vorbereitung: Auf ihrem Weg, eine Faceless zu werden, eine raffinierte Auftragsmörderin, muss Arya Stark viele Prüfungen über sich ergehen lassen. Bei einer wird sie von ihrem Meister geblendet. Als blinde Bettlerin wird sie immer wieder von ihrer namenlosen Ausbilderin, The Waif, verprügelt – ein sehr brutales Training. Arya muss blind gegen eine Sehende kämpfen und verliert wieder und wieder.
Erinnerung: Arya wird mehrfach von dem namenlosen Mädchen geschlagen und auch verbal erniedrigt. Sie steckt ein und steckt ein. Am Ende wird sie sogar beinahe von ihrer ehemaligen Ausbilderin getötet, mit mehreren Messerstichen in den Bauch.
Auflösung: Nachdem Arya sich dagegen entschieden hat, eine Killerin zu werden, versucht The Waif abermals, sie zu töten. Arya flieht, ihre Wunden reißen wieder auf, sie und der Zuschauer wissen, sie hat keine Chance. Sie rettet sich in einen Keller, doch The Waif findet sie. Die halb tote Arya zieht ihr kleines Schwert. Der Zuschauer weiß, sie hat keine Chance im Kampf. Doch statt mit dem Schwert auf ihre Ausbilderin loszugehen – schlägt Arya damit zunächst die Kerze aus. Im Keller ist es auf einmal stockfinster. Ihr Training als Blinde lässt sie als Sieger aus dem Kampf hervorgehen.
Belohnung: Eine Überraschung, als Arya die Kerze ausschlägt – und dann die sofortige Erkenntnis, was sie damit bezweckt. Am Ende, als Arya gesiegt hat, das Gefühl poetischer Gerechtigkeit.
Bewertung (eine Übung für Sie!) …
3. Cerseis Rache
Zeitraum: lang / gesamte sechste Staffel.
Vorbereitung: Cersei muss im »Walk Of Shame« für ihre Sünden büßen. Sie, die ehemalige Königin, die stolze und arrogante Herrscherin, wird – vom Religionsführer High Sparrow angeordnet –, nackt durch die ganze Stadt King’s Landing getrieben und wird von Tausenden ihrer Untertanen angespuckt und verspottet und mit Dreck und Kot beworfen.
Erinnerung: In jeder Szene mit Cersei spürt der Zuschauer ihre unterdrückte Wut, den Hass, die Gedanken an Rache. Sie schweigt zunächst, widersetzt sich dann den Anweisungen des High Sparrows. Tritt ihm feindselig gegenüber und lässt schließlich ihren Diener einen der Diener des Sparrows töten.
Hier sieht man, dass auch in solchen Erinnerungen Eskalation ein gutes Mittel ist, die Spannung zu steigern und den Zuschauer oder Leser spüren zu lassen, dass alles auf einen Höhepunkt zuläuft.
Auflösung: Cersei lässt ihre Feinde wie etwa den Grandmaester Pycelle und ihren verräterischen und konvertierten Verwandten töten und löst in der Kirche der Sieben eine Explosion von Wildfire aus, bei der die komplette Armee des High Sparrows sowie alle anderen in der Hauptstadt, die Cersei hasst, auf einen Schlag vernichtet werden.
Belohnung: Ein gewaltiger Knall, eine gigantische Szene, ein massiver Massenmord, der den Zuschauer mit offenem Mund zurücklässt. Und das Gefühl, das die Schurkin Cersei noch schlimmer ist, als man immer dachte.
Bewertung (als Übung für Sie!) …
4. Hodors Name
Zeitraum: sehr lang / sechs Staffeln (sechs Jahre für den Zuschauer).
Vorbereitung: Hodor wird als herzensguter Hüne vorgestellt, der nichts weiter sagt als »Hodor«. Er ist seinem Herrn, dem jungen Lord Bran Stark, treu ergeben.
Erinnerung: Bei jedem Auftritt von Hodor, denn immer sagt er nur dieses »Hodor«.
Enthüllung: Bei einer dramatischen Flucht vor den White Walkers und ihren untoten Wights ruft Bran Stark seinem getreuen Hodor zu »Hold the Door!«. Und das tut Hodor, sodass Bran und Meera Reed entkommen können. Hodor rettet nicht nur Bran und Meera das Leben, er sorgt mit seinem Opfer auch dafür, dass die Hoffnung auf einen Sieg der Menschen über die White Walkers und ihre Armeen der Untoten lebendig bleibt.
In einer Szene, die Gegenwart und Vergangenheit miteinander verknüpft, hört Hodor als Kind den Ruf »Hold the door!« – dieses krasse Erlebnis lässt Hodor das Kind einen epileptischen Anfall bekommen, während dem er nur wieder und wieder »Hold the door!« schreit. Die Schreie werden undeutlicher, bis am Ende nur ein »Hodor« übrigbleibt.
Belohnung: Endlich die Wahrheit über einen geliebten Charakter erfahren zu dürfen. Und ihn als Helden erleben zu dürfen. Zugleich ein Bedauern, ihn so sterben zu sehen. Eine bittersüße Belohnung.
Bewertung (als Übung für Sie!) …
An diesen Beispielen sehen Sie, dass eine gute Geschichte eine Reihe von Geheimnissen und offenen Fragen gleichzeitig mit sich herumtragen kann und herumtragen sollte. Einzahlung und Auszahlung und hohe Zinsen (Leserbelohungen) brauchen Planung. Aber auch im Nachhinein, bei der Überarbeitung, können Sie solche Enthüllungen vorbereiten.
Dafür werden dann auch Sie von den Lesern belohnt: mit Fanpost, Weiterempfehlungen und dem Kauf Ihres nächsten Buchs.
Stephan Waldscheidt
Als John Alba schreibt er eine Reihe von Mystery-Thrillern, deren erster Roman jetzt erschienen ist: ZWINGER. Eine Krankenschwester, die Männer in eine Falle lockt, um ein wahnsinniges Experiment durchzuführen. Ein indisches Mädchen, als Sklavin gehalten, das kein weiteres Mal sterben will. Ein Familienvater, der in einem engen Hundezwinger gegen den Tod kämpft, für seine kleine Tochter – und gegen die Zeit. Drei Schicksale für immer verbunden. Ein dunkles Wesen, das im Tode lauert. Kein Entkommen.
»Ein tolles Buch, spannend, schön detailversessen, intensiv, minimalistisch, dramatisch, blutig, schlafraubend.« (J. Siemens)
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