Schreib-Tipp: Underdog, Benachteiligter, Prügelknabe – und Romanheld

Was haben die Weltbestseller »Harry Potter«, »Der Herr der Ringe«, »Die Päpstin«, »Vom Winde verweht«, »Per Anhalter durch die Galaxis« und »Der Fänger im Roggen« gemeinsam?

Sehen wir uns den Anfang der »Harry Potter«-Reihe an. Harry wird darin als ein Junge eingeführt, der in einer Adoptivfamilie aufwächst. Alle hacken sie auf ihn ein, die Eltern ebenso wie der Bruder. Dabei tut Harry nichts, um sich diesen Unmut zu verdienen. Mal von ein bisschen Magie abgesehen … Harry Potter erinnert nicht von Ungefähr an eine andere, nicht weniger bekannte Märchenfigur – Aschenputtel.

Wie Aschenputtel ist auch Harry Potter ein Underdog.

  • Underdogs werden oft von ihrem Umfeld zu Underdogs gemacht, direkt oder indirekt. Dieses Umfeld kann eine Familie sein wie bei Harry Potter. Es kann auch die Gesellschaft als Ganzes sein wie vor allem bei Heldinnen in früheren Zeiten, etwa bei »Die Päpstin« (Eine Frau als Päpstin?) oder auch bei »Vom Winde verweht« (Eine eigenständige, sehr eigensinnige Frau zur Zeit des Sezessionskriegs in den USA?). Oder es ist eine Rassenfrage wie bei Frodo: Als kleiner, friedliebender Hobbit ist er der klare Underdog in der Bruderschaft des Rings neben gestandenen (und deutlich größeren) Kriegern wie Boromir oder Aragorn/Striker.
  • Der (Bestseller-)Underdog ist nicht dumm oder unfähig. Im Gegenteil. Er oder sie bringt Fähigkeiten in die Geschichte, oft ist der Underdog sogar in etwas ganz besonders begabt.
  • Ein literarisch verwertbarer Underdog spricht häufig auch eine Art Mutterinstinkt bei den Lesern an. Man möchte den Ärmsten beschützen, ihn aus seiner unmöglichen Lebenssituation herausholen und die umbringen, die ihn erst zu einem Underdog machen. Auch das ist ein starkes Gefühl, das die Leser für Ihren Protagonisten einnimmt.
  • Ein (Bestseller-)Underdog ist daher jemand, dem der Status des Underdogs gar nicht zukommt. Dazu ist er zu lieb, zu fähig, zu gut, zu schön (Aschenputtel!). Beim Leser kommt das Gefühl auf, dem Underdog geschehe Unrecht. Und dieses Gefühl treibt Leser wie kaum etwas anderes in die Arme Ihres Underdog-Protagonisten.

Hier liegt auch ein Risiko: dass nämlich der Status des Prügelknaben unglaubhaft wirkt. Wäre Aschenputtel tatsächlich so schön, wäre sie da nicht schon längst mit einem Prinzen verheiratet, statt sich mit Feen einzulassen und spätabends auf Bällen abzuhängen? Sogar bei »Harry Potter« stellt sich die Frage, ob sein Status in seiner Adoptivfamilie ganz und gar glaubhaft ist. Jemand mit seinen Kräften schlägt sich – auch noch nach Jahren in Hogwarts – mit diesen Typen herum? Im Ernst, Frau Rowling?

  • Ein Underdog funktioniert im Roman auch deshalb so gut, weil er das größte Potenzial für Veränderung hat. Der deutsche Hundertzehnmeter-Hürden-Meister kann Olympiagold gewinnen. Ein erfolgreicher Anwalt kann ein erfolgreicher Anwalt und geliebter Familienvater werden. Das alles sind deutliche Veränderungen. Nichts aber bedeutet eine größere Veränderung als der Aufstieg vom Aschenputtel zur Prinzessin.

Das heißt, dass sich hier auch das größte Potenzial für Drama verbirgt, für die größten Emotionen und die sagenhaftesten Actionszenen.

  • Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren des Underdogs: Wir alle fühlen uns gerade, permanent oder häufiger als Underdog oder wir erinnern uns an das Gefühl, als wir selbst mal einer waren: Wir wurden in der Schule wegen unserer Pickel gehänselt, vom Chef als Versager angesehen, wo der eigentliche Versager eben dieser Chef war, oder man hat uns als einzige Schwarze auf dem Dorffest voller Weißer von oben herab behandelt.

Das alles macht den Underdog für die Leser zur perfekten Identifikationsfigur, zu einem Menschen »wie du und ich«.

In dem Roman »Der Lügenbaum« von Francis Hardinge (Freies Geistesleben 2017) begegnen wir Faith, einer Protagonistin, die einige typische Merkmale eines Underdogs mitbringt.

  1. Sie ist vierzehn und steht damit mit einem Bein in der Kindheit, mit dem anderen im Erwachsenenleben – und wird immer wieder dann zu einer der Gruppen hinzugerechnet, wenn ihr das überhaupt nicht passt.
  2. Sie ist ein kluges Mädchen in einer Zeit, wo man Frauen Klugheit nicht zugestand oder sie lediglich als Hindernis auf dem Weg zu einer ertragreichen Heirat ansah.
  3. Sie interessiert sich für Naturwissenschaften, was extrem unweiblich ist.
  4. Entweder verhält sie sich wie ein dummes Mädchen – und leidet darunter. Oder sie lässt ihre Klugheit hervorblitzen – und leidet unter dem Unverständnis oder der Ignoranz der anderen.
  5. Sie vergöttert ihren Vater, den Naturforscher, ihr Vater aber nimmt kaum Notiz von ihr. Stattdessen versucht ihr Vater, Faiths sehr viel jüngeren Bruder für seine Forschungen zu interessieren.

Wer ist der Protagonist Ihres Romans? Eine Heldin von Anfang an? Können Sie sie tiefer anfangen lassen? Ihr sofort Ungerechtigkeiten in den Weg stellen, Menschen, die sie von oben herab behandeln? Oder hat Ihr Protagonist besondere Fähigkeiten? Was wäre, wenn er sie nicht ausleben kann? Etwa, weil es die Gesellschaft oder sein Umfeld nicht zulassen? Was, wenn er wegen seiner Besonderheiten verspottet würde? Wenn er endlich dazu kommt, seine Fähigkeiten zu präsentieren – und er bei dieser Präsentation gnadenlos versagt?

Finden Sie weitere solche Fragen und loten Sie das Potenzial Ihrer Hauptfigur aus.

Stephan Waldscheidt

Viel mehr Tipps zum Plotten finden Sie in dem Schreibratgeber: »Plot & Struktur – Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen«

»Alle Waldscheidts sind gut. Aber dieser ist der Beste.« (pe)

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