Mit dem Kindle hat Amazon es geschafft, das E-Book als Lese-Medium durchzusetzen, was zuvor Branchengrößen wie Bertelsmann (Rocket eBook) und Sony nicht gelungen war. Für die Kunden, die Leser, war das toll, denn E-Books sind generell günstiger als gedruckte Bücher. Für das gleiche Geld mehr lesen, was kann daran schlecht sein? Mit dem Kindle Direct Publishing hat die Firma dann die Vermittlerrolle der Verlage ausgehebelt – wieder vor allem zugunsten der Leser. Denn plötzlich gab ees ein riesiges Angebot an sehr günstigem Lesestoff. Selfpublisher bieten ihre Werke nicht mehr nur 20 Prozent billiger als die gedruckte Ausgabe an, sondern kalkulieren gleich vom E-Book aus. 2,99 bis 4,99 Euro, zeigt sich, genügen durchaus, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein.
Das Kindle Direct Publishing war auch für die AutorInnen, die sich getraut haben, eine Revolution, ermöglicht es doch, sich eigenverantwortlich eine Existenz abseits der alten Torwächter aufzubauen. Allein seine Existenz hat die anderen Branchenteilnehmer gezwungen, sich ähnlich offen zu zeigen. Es war aber nie ein Service zum Wohle der Schreibenden. Im Fokus von Amazon stehen immer die Kunden, im Fall des Buches also jeder Mensch, der liest. Autorinnen sind für die Firma Lieferanten, ähnlich wie Verlage, mit dem Unterschied, dass sie zugleich auch Erzeuger sind. Wirtschaftlich ist es klug, direkt vom Erzeuger zu kaufen, statt den Umweg über den Großhandel zu gehen, der ja auch selbst noch verdienen will. Selbst bei physischen Gütern macht Amazon das zunehmend so (bei den »Amazon Essentials« tritt man selbst als Lieferant auf), aber bei digitalen Gütern bietet sich das geradezu an und lässt sich auch sehr bequem umsetzen.
Der nächste Schritt war dann nur logisch: Digitale Güter eignen sich nicht nur für den traditionellen Einzelkauf, sondern auch für den Flatrate-Bezug. Das kennen Sie von Spotify oder Netflix. Das gefällt nicht jedem Lieferanten, aber praktischerweise hatte Amazon dank KDP bereits genügend mutige Lieferanten auf seiner Seite, die man dann mit einer Reihe von Boni zusätzlich motiviert hat. »Kindle Unlimited« war geboren, die E-Book-Flatrate für Vielleser. Zigtausend E-Books für einen Zehner, das ist schwer zu toppen. Das Modell des monatlichen wechselnden Pools hat es Amazon zugleich erlaubt, die Kosten im Griff zu behalten. Konkurrenzanbieter, die feste Honorare zahlten, mussten ihre Modelle oft anpassen oder ganz den Betrieb einstellen; übrig blieben nur solche Konkurrenten, die von Anfang an sehr sparsam (für ihre Lieferanten) gerechnet hatten. Es gibt zwar keine offiziellen Zahlen, aber man darf annehmen, dass Amazon bei KindleUnlimited nie wirklich draufgezahlt hat, zumindest nach den ersten drei Monaten.
Aber das ist nicht das Ende. Es ist erklärtes Ziel von Amazon, seinen Kunden einen Rundum-Service zu bieten und sie an sich zu binden. Das Instrument dafür ist Prime, das für eine feste Pauschale in vielen Bereichen Vorteile bietet. Wenn ich Prime-Kunde bin und (wie vermutlich die Mehrheit) keine speziellen Ansprüche habe, brauche ich weder Spotify noch Netflix. Und ich brauche inzwischen auch Skoobe nicht mehr oder einen Tolino-E-Reader, denn Prime Reading bietet mir 500 kostenlose E-Books im Quartal, die ich nur auf einem Kindle lesen kann. Das ist mehr, als selbst Vielleser weglesen können, und das merkt man an den Zahlen. Amazon laufen aber nicht die Leser weg – die KindleUnlimited-Kunden, denen Prime Reading genügt, und das könnte die Mehrheit sein, lassen ihre Abos auslaufen und lesen mit Prime weiter. Für Amazon ist das kein Problem. Die Firma hat noch nie ein Problem damit gehabt, sich selbst zu kannibalisieren. Aber in der Summe findet vermutlich nicht mal eine Kannibalisierung statt, sondern nur eine Umschichtung der Kunden von KU hin zu Prime Reading. Dem Gewinn ist das nicht abträglich: Amazon zahlt Autoren pro Titel zwischen 200 und 3000 Euro pro Quartal für die Nutzung in Prime, wobei die Mehrheit der Titel wohl am unteren Ende liegt. Das Gesamtbudget für Deutschland könnte damit bei etwa 200.000 Euro liegen, rechnen wir großzügig mit 300.000 Euro, dann sind das im Monat runde 100.000 Euro. Im Vergleich zu den monatlichen Millionen im KU-Fonds ist das wenig. Allein für die AllStar-Boni zahlt Amazon in Deutschland jeden Monat 310.000 Euro aus. Und in Prime Reading gibt es keine Betrugsmöglichkeit.
Prime Reading hat für Amazon aber nicht nur einen Kostenvorteil: Es bringt auch neue Kindle-Kunden. Dass es angenommen wird, sieht man sehr gut an den festen Chartpositionen der darüber erhältlichen Titel. Das lässt natürlich Fragen nach der Zukunft von KindleUnlimited aufkommen. Wird es irgendwann komplett von Prime Reading ersetzt?
Auf absehbare Zeit wohl eher nicht. Es erschließt eine zusätzliche Zielgruppe und hilft Amazon außerdem dabei, AutorInnen exklusiv an KDP zu binden. Nicht zuletzt braucht man diesen Pool, um daraus dann Titel für Prime Reading zu gewinnen. Hier muss ja all drei Monate neuer Stoff her. Die Kosten für KU sind überschaubar, anders als bei Prime Reading gibt es auch Einnahmen; vor allem besitzt Amazon mit dem Fonds ein Werkzeug, um Angebot und Nachfrage zu steuern. Wird ihnen der Erfolg zu teuer, brauchen sie bloß die gezahlte Quote sinken zu lassen.
Prime Reading wird aber für den wirtschaftlichen Erfolg über KDP in Zukunft immer wichtiger werden. Wer als Autor sichtbar bleiben will, muss dann vielleicht in jedem Quartal ein Buch in Prime verfügbar haben, und zwar möglichst den ersten Teil einer Reihe. Ich schätze, dass KindleUnlimited bis Jahresende 2018 stagnieren oder sogar leicht schrumpfen wird. Damit steigt übrigens die Bedeutung der Verkäufe wieder! Und damit womöglich sogar die Einnahmen der KDP-Nutzer. Wenn es gelingt, einen Prime-Leser mit dem ersten Teil einer Reihe wirklich zu faszinieren, dann ist die Chance groß, dass er oder sie den zweiten Teil kauft. Ein KindleUnlimited-Kunde hingegen hat bereits eine so große Auswahl, dass die Kaufbereitschaft wohl nicht mehr so groß ist, zumindest bis der Kunde meint, seine 9,99 Euro im Monat »weggelesen« zu haben.