Neues von Fortschrift.net: Nicht ein Roman, sondern viele Welten im Kopf des Lesers

Vor gut drei Monaten startete Fortschrift.net, die neuartige Mitleseplattform, mit dem Ziel, gleich fünf Probleme für Autoren und Verlage zu lösen:

  • ohne großen Zusatzaufwand Sichtbarkeit für ein Buch zu erzielen (schreiben muss es der Autor ja sowieso)
  • Rezensionen pünktlich zum Verkaufsstart zu erhalten
  • Fanbindung herzustellen durch einen direkten Zugang zum Autot
  • die Veröffentlichung zumindest teilweise vorzufinanzieren
  • und das Format eBook durch echte Interaktion ausfzuwerten und damit die schleichende Entwertung des Buches zu stoppen.

Bisher haben 13 Autoren diese Möglichkeit genutzt, in der Regel waren drei parallel aktiv. Entstanden sind unter anderem:

Derzeit schreiben drei Autoren live: Wolfgang Schwerdt schickt seinen Schiffskater Rotbart auf Abenteuer-Reise, Zsolt Majsai (Verlag 3.0) verfasst mit “Fiona” eine Dystopie.

Filmdramaturg Marcus Patrick Rehberg hat sich ein ungewöhnliches Projekt vorgenommen: eine moderne Adaption des Klassikers um Dr. Jekyll und Mr. Hyde. In dem Konzept spielen die Leser eine ganz besondere Rolle – sie können einen ganzen Raum von Geschichten aufspannen, ein Parallel-Universum gewissermaßen. Deshalb ist die Teilnahme an diesem Experiment kostenlos. Das schreibt der Autor dazu:

Jacky & Heidi – Ein Kontrollversuch“

Die Geschichte des Romans handelt nicht nur inhaltlich von einem gewagten Experiment, sondern offenbart seinen Versuchscharakter auch im Entstehungsprozess und Format.

Worum geht es inhaltlich?

Die Inspiration für das Projekt gab Robert Louis Stevensons Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Sie gehört sicherlich zu den meist verfilmten Klassikern der Weltliteratur. Und da wir derzeit in einer stark polarisierenden Zeit leben, in der das Dunkle immer dunkler, aber auch das Helle immer heller zu werden scheint, brennen uns die Fragen, mit denen sich Stevenson in seinem 1886 erschienenen Werk als literarischer Versuchsleiter beschäftigt hat, heute mehr denn je auf den Nägeln.

Es geht um das „Gute“ und das „Böse“ in uns und in den anderen, wie auch immer man diesen polaren Gegensatz definieren mag. Anhand der Figuren von Jacky und Heidi möchte möchte ich Stevensons Experiment in die Gegenwart holen: In dem modernen Versuchsaufbau verwenden die Protagonisten zum Beispiel keine unkontrollierbare Droge, der man ausgeliefert ist, sondern ein „Programm“, das den beiden Teilnehmerinnen als rein hypnotisches Implantat den Zugang zu ihrem Unterbewusstsein ermöglicht. Sie haben also auf der Suche nach ihrem wahren Selbst viel mehr Kontrolle als es der arme Dr. Jekyll hatte; dadurch sind sie aber wiederum anderen Risiken ausgesetzt. Es geht dabei nicht in erster Linie um Mord und Totschlag, sondern vor allem auch um die Versuchungen, denen wir alle im Morast des Lebens begegnen, und letztlich um die eigenen Schattenseiten, wie man sie erkennt, ans Licht bringt und letztlich vielleicht sogar auch überwindet.

Inhaltlich könnte man jetzt natürlich noch weiter ins Detail gehen, aber ich möchte nun zum formalen Aspekt kommen.

Worum geht es formal?

Als Autor muss ich mich ja ständig entscheiden, wie eine Geschichte nun weitergeht. Vielleicht hege ich deshalb seit langem den Wunsch, mal eine sich verzweigende Geschichte zu schreiben. Es gab ja Versuche dieser Art, wo man dann als Leser eben auf Seite 24 oder 36 weiterlesen konnte. Und daher möchte ich die Entstehung dieses Werkes bei Fortschrift.net nicht nur auf offener Bühne vor den Augen der Leser/innen vollziehen, sondern deren individuelle Anregungen / Wünsche / Vorschläge auch in individuelle Varianten umsetzen. Konkret gesagt: Ich werde parallele Plot-Varianten mit unterschiedlichen Figurenentwicklungen schreiben. Es entsteht also nicht nur ein Roman, sondern viele. Natürlich birgt das das Risiko einer ausufernden Menge an offenen Fäden. Mal sehen, wie sich diese an bestimmten Knotenpunkten wieder verbinden lassen. Wenn nicht, wird jeder Strang sein eigenes Ende bekommen. Egal ob nach 44 oder 88 Seiten.

Falls dieser Versuch tatsächlich ausufert, und sich mehr und mehr Leser/innen mit ihren Vorstellungen integrieren, kann ich mir ja Hilfe holen. Ich fände die Idee, dass mehrere Autor/innen sich jeweils einer bestimmten Story-Variante widmen ebenfalls sehr spannend. Aber das ist jetzt nur eine hypothetische Möglichkeit, die zeigen soll, wie offen das Projekt angelegt ist. Ich will damit sagen, es können auch Dinge passieren, die ich jetzt noch gar nicht ahne. Vielleicht werden auch aktuelle Ereignisse aus dem öffentlichen Leben (soweit das rechtlich möglich ist) eine Rolle spielen. Natürlich habe ich auch eine gewisse strukturierende Road-Map für das Projekt, aber die ist eher thematisch auf einer Meta-Ebene vorhanden und lässt mir einen großen Handlungs-Freiraum für viele Geschichten.

Im fertigen E-Book (das am Ende des Prozesses steht) hätten die Leser/innen dann die Möglichkeit, sich an den jeweiligen Zweigstellen für einen der Wege zu entscheiden, indem sie z.B. eine von drei Reaktionen oder Antworten der handelnden Figur auswählen. Per Klick landen sie zum Weiterlesen an der entsprechenden Stelle.

Diese Kommunikation mit den Leser/innen könnte sogar schon auf der ersten Seite mit der Erzählperspektive beginnen:

V1:

“Früher wachte Jacky aus ihren Alpträumen auf und brauchte Stunden, um zu verstehen, dass sie nicht Wirklichkeit waren. Mittlerweile wachte sie immer öfter aus der Realität auf, und brauchte Stunden um zu verstehen, dass diese kein Traum war. Sie hörte auf, darüber nachzudenken, packte ihre letzten Bücher in einen alten Umzugskarton, verstaunte ihn im Keller. Dann musste sie auch schon dringend los, denn ihre Verabredung würde nicht warten. …”

V2:

“Mein Name ist Jacky. Eigentlich, Jaqueline Kreienkamp. Jacky nennt mich nur Professor Enders. Wegen seinem Experiment. Heidi und ich, tja, wir sind seine Versuchskaninchen. Ich traue ihm nicht. Obwohl es keinen Grund gibt, ihm nicht zu vertrauen. Er ist der klügste und weiseste Verstand, dem ich bislang in meinem Leben begegnet bin. Aber was heißt das schon. Vielleicht ist er klug genug, um mich zu täuschen. Und vielleicht ist das sogar weise. …”

V3:

“Seit über zweiunddreißig Jahren habe ich auf diesen Versuch hingearbeitet und nun nach Jahren vergebliche Suche – endlich – auch die geeigneten Probanden gefunden. Vorhin saßen die beiden vor mir, und ich fragte sie: „Seid ihr bereit?“ Jacky sagte sofort ja. Heidi zögerte. Schließlich, nach einer Pause, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, stieß sie ein unsicheres „Okay“ hervor. …”

Autoren (aber auch Verlage), die an Fortschrift.net teilnehmen wollen, können sich hier eintragen. Die Teilnahme ist kostenlos, alle Rechte bleiben beim Rechteinhaber.