Lesen gilt heute als förderlich für die geistige Gesundheit – das war nicht immer so: Wie man heutigen Kindern gern vorwirft, in virtuellen Welten abzutauchen, galt ausufernde Lektüre insbesondere von nutzloser Belletristik noch vor 200 Jahren als ausnehmend schädlich insbesondere für Heranwachsende oder Frauen. Schnell wurde Lesesucht diagnostiziert; Bibliotheken galten als ihre Brutstätten, Romanen sagte man einen “verderbenden Einfluss” nach.
Inzwischen gibt es zur Wirkung von Computerspielen auf die neuronale Entwicklung zwar jede Menge Forschung (die meisten Wissenschaftler geben übrigens Entwarnung) – doch die Lektüre bleibt hier schmählich außen vor. Umso spannender ist die Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands, die Keith Oatley von der Universität Toronto (selbst Romanautor) in einem Paper im Magazin Trends in Cognitive Sciences veröffentlicht hat.
Zunächst hat sich die Forschung mit dem Zusammenhang von Lesen und Erfolg im Leben befasst. Es zeigt sich nicht ganz überraschend, dass eifrige Leser einen höheren Wortschatz besitzen. Das gilt insbesondere bei Lektüre von Belletristik, nicht von Sachbüchern. Wer in der frühen Kindheit mehr liest, ist später in der Schule erfolgreicher. Belletristik simuliert offenbar die soziale Umgebung des Menschen. So, wie ein Flugsimulator tatsächlich die Flugkünste stärkt, bietet Lesen Orientierung in sozialen Beziehungen. Tests zeigen aber auch, dass Vielleser ein höheres Maß an Empathie entwickeln – und zwar auch hier vor allem Vielleser von Belletristik. Interessant ist dabei, dass sich Liebesroman- und Krimi-Leser in diesem Punkt von Science-Fiction-Lesern unterscheiden, die in Sachen Empathie schlechter abschneiden.
Diese Korrelation muss natürlich keine Ursache-Wirkungs-Beziehung darstellen. Tatsächlich lässt sich aber sogar experimentell zeigen, dass Lesen von Belletristik die Fähigkeiten verbessert, sich in andere Menschen hineinzuversetzen: Wer im Experiment mehrere Geschichten lesen musste, schnitt danach bei Empathie-Tests besser ab als die Kontrollgruppe, die Sachtexte las. Dabei scheint vor allem das Erzählen einer Geschichte wichtig zu sein, denn der Test endete ebenso, wenn die Forscher Menschen Spielfilme resp. Dokumentation ansehen oder ein erzählendes Computergame spielen ließen.
Woher kommt das? Der Studienautor zählt zwei Mittel auf, die sich in Experimenten als wichtig erwiesen haben. Das ist zum einen die Notwendigkeit, sich in die Protagonisten hineinzuversetzen, die offenbar trainierend wirkt, zum anderen aber auch die Übertragung der Gefühle der Protagonisten auf den Leser. Das Ausmaß der emotionalen Verstrickung lässt sich sogar im Gehirnscan (fMRT) ablesen. Interessant: es wächst mit dem literarischen Gehalt einer Geschichte; vermutlich, weil sehr populäre Belletristik oft mit Schablonen arbeitet, die dem Leser die “Arbeit” erleichtern, ihn dann aber auch oberflächlicher beeinflussen.