Sympathie ist, laut Wikipedia, die sich spontan ergebende gefühlsmäßige Zuneigung. Man kann darüber streiten, ob Zuneigung nicht immer gefühlsmäßig ist. Was ich an der Definition spannend finde, ist das Wörtchen spontan. Denn genau da liegt einer der Knackpunkte auch für sympathische Charaktere.
In Ihrem Roman meint dieses Spontane den ersten Eindruck, den ein Charakter auf den Leser macht. Was im Leben gilt, gilt in diesem Fall auch im Roman – sogar mehr noch, wie wir gleich sehen werden –, nämlich: Der erste Eindruck ist immens wichtig. Dass er spontan zustande kommt, enthält Sprengkraft. Spontan heißt: Bevor das Bewusstsein und das Großhirn des Lesers dazwischenfunken, bevor er oder sie den Eindruck mit der Ratio relativieren, hat sich bereits entschieden, ob der Charakter dem Leser sympathisch ist.
Sympathie ist aus verschiedenen Gründen wichtig. Zunächst ist da einmal die oft spontan getroffene Entscheidung, ob ich als Leser nach der Lektüre des Anfangs den Roman überhaupt lesen will.
Dann spielt die Sympathie, die die Protagonisten vermitteln, auch auf die Distanz eine Rolle: Die wenigsten Leser wollen einen Roman lesen, zu deren Hauptfiguren sie auch auf Dauer keinen Draht entwickeln, sie wollen keine drei- vier-, fünfhundert Seiten mit Unsympathen verbringen. Die Ich-Perspektive trennt da besonders schnell die Spreu vom Weizen: Fünfhundert Seiten mit einem Charakter zu verbringen, den man nicht leiden kann, ist unschön genug. Fünfhundert Seiten direkt im Kopf dieses unsympathischen Charakters zu verbringen, ist den meisten Lesern zu viel des Schlechten.
Schließlich erleichtert Sympathie die Identifikation. Kein Leser wird sich mit einem Charakter identifizieren, den er oder sie nicht ausstehen kann.
Was ist nun das Erste, was der Leser von einem Ihrer Romancharaktere wahrnimmt? Ist es das Aussehen, das Sie beschreiben? Ist es eine seiner oder ihrer Eigenschaften, die Sie darstellen? Ist es eine Tat, die Sie zeigen?
Nein, nein und nein.
Es ist die Erzählstimme.
Was in einem Film die erste Einstellung ist, eine Menge von Bildern, ist in einem Roman der Zusammenfluss der Wörter. Es ist eine Erzählstimme, die spontan Sympathie vermittelt. Oder eben nicht.
Insbesondere drei Dinge beeinflussen, ob eine Erzählstimme auf Anhieb als mehr oder weniger sympathisch wahrgenommen wird.
Sehen wir uns dazu zwei Romananfänge an. So beginnt der Krimi »Schlaf, Engelchen, schlaf« (Piper 2016):
Wenn ich etwas hasse auf dieser Welt, dann ist es Scheinwerferlicht. Grelles Licht, das auf mich gerichtet ist wie eine Waffe. Das mir den Schweiß aus den Poren treibt, mich quält und demütigt wie das Opfer eines Folterverhörs. Es verhindert, dass ich den Menschen hinter der blendenden Mauer ins Gesicht sehen kann. Den Menschen, die mich gleich anschreien, mir ihre drängenden, gemeinen Fragen zurufen werden. Fragen, die alle nur das eine Ziel haben: mich bloßzustellen, mich zu erniedrigen, mir Schmerzen zuzufügen, die ich nicht verdient habe. Fragen, die ungerecht sind und feige, weil sie gestellt werden von Leuten, die hinter diesem gemeinen Licht sitzen, in der wohligen Sicherheit der Masse. Sie sind viele, während ich allein bin. Sie sind anonym, während meinen Namen und mein Gesicht jeder in diesem großen und schon jetzt stickigen Raum kennt, der viel zu klein ist für den überwältigenden Andrang. Geil vor Ehrgeiz werden sie sich zu Wort melden und sich an meinem Elend weiden.
Und vergleichen wir ihn mit dem Anfang des Romans »Drei Tage im Mai« (Piper 2015):
Ich hatte wirklich schon bessere Tage erlebt. Der erste Mai war in diesem Jahr auf einen Freitag gefallen und hatte endlich Sonnenschein gebracht, nach dem nicht enden wollenden Aprilregen. Wie hatte ich mich auf ein ruhiges, extralanges Wochenende gefreut ! Und nun ? Nun hatte ich Streit mit Theresa, Stress mit meinen Töchtern, immer neuen Ärger mit meiner Mutter – und das bittere Sahnehäubchen bildete mein geliebter, siebzehn Jahre alter Peugeot Kombi, der soeben mit Pauken und Trompeten durch die TÜV-Prüfung gefallen war. Eigentlich wäre die Untersuchung schon im April fällig gewesen, aber irgendwie hatte ich es nicht früher geschafft.
Heute aber, pünktlich um acht, hatten ich und mein braves Auto hoffnungsfroh vor den Toren gestanden, waren auch fast sofort drangekommen, der Prüfingenieur schien ein umgänglicher, besonnener Mann zu sein, lächelte wohlwollend und verlor sogar ein paar nette Worte über mein altes Auto. Das Lächeln war ihm im Verlauf der Untersuchung leider rasch vergangen : leckende Servolenkung, Ölverlust am Motor, angerostete Bremsleitungen und noch etwas höchst unschön und teuer Klingendes mit der Vorderachse. Der Prüfer war kein Unmensch. Er meinte es gut mit uns und gab mir den Rat mit auf den Weg, ich solle mich doch besser nach einem neuen Auto umsehen.
Welcher Ich-Erzähler ist Ihnen spontan sympathischer?
Der zweite, oder?
Dabei ist es derselbe Romancharakter, Ermittler Alexander Gerlach in den Krimis von Wolfgang Burger.
Drei Dinge fallen in den Ausschnitten sofort ins Auge – und genau diese drei Dinge machen den Sympathie-Unterschied.
1. Die Wortwahl
Das erste Beispiel strotzt vor negativen Wörtern: Hass, grell, Waffe, Folterverhör, quälen, demütigen usw. Die Stimmung des Ich-Erzählers wird darin auf extreme Weise deutlich. Das ist erzählerisch sinnvoll, um die Emotionen des Erzählers zu vermitteln – sympathisch klingt es nicht.
Anders der Ausschnitt aus dem zweiten Roman. Hier finden sich sowohl positive als auch negative Wörter. Dass der Erzähler im zweiten Ausschnitt spontan sympathischer wirkt, liegt aber nicht nur an der Wahl der Wörter.
(Nebenbei ist hier noch interessant, dass für den spontanen Eindruck von Wörtern eine Verneinung keine Rolle spielt. So wird im ersten Satz »bessere Tage« zwar negiert – das Hirn aber nimmt diese positiven Wörter zunächst als positiv auf. Erst wenn der Verstand einsetzt, kommt die Negierung zum Tragen: Dass der Ich-Erzähler schon bessere Tage erlebt hatte, der Tag also alles andere als gut war.
Wörter funktionieren in dieser Hinsicht vorbewusst wie Bilder: Auch in Bildern ist eine Negation nicht oder kaum darstellbar. Sie glauben mir nicht? Finden Sie mal ein Foto ohne einen Elefanten, das eindeutig das Fehlen eines Elefanten zeigt.)
2. Die Gestimmtheit
Wie im Leben so fühlen wir uns auch in Büchern wohler mit Menschen, die etwas Positives ausstrahlen. Ein Mensch, der lächelnd ein Eis schleckt, ist uns spontan sympathischer als ein Mensch, der sich extrem darüber aufregt, gerade in einen Hundehaufen getreten zu sein.
Die Gestimmtheit im ersten Beispiel ist sehr negativ – Alexander Gerlach ist sehr, sehr schlecht drauf. Auch neigt er ein wenig zu beinahe schon melodramatisch überzeichnetem Selbstmitleid, etwa hier: »Sie sind viele, während ich allein bin. Sie sind anonym, während meinen Namen und mein Gesicht jeder in diesem großen und schon jetzt stickigen Raum kennt, der viel zu klein ist für den überwältigenden Andrang. Geil vor Ehrgeiz werden sie sich zu Wort melden und sich an meinem Elend weiden.«
Die Gestimmtheit im zweiten Beispiel ist nicht eitel Sonnenschein, aber doch besser – und vor allem von viel mehr Positivem, von Hoffnung durchzogen, etwa in diesem Abschnitt: »… pünktlich um acht, hatten ich und mein braves Auto hoffnungsfroh vor den Toren gestanden, waren auch fast sofort drangekommen, der Prüfingenieur schien ein umgänglicher, besonnener Mann zu sein, lächelte wohlwollend und verlor sogar ein paar nette Worte über mein altes Auto.«
Mit dem Charakter aus dem zweiten Beispiel würden wir spontan ein Eis esse gehen. Um den Mann aus dem zweiten Beispiel würden wir, bei seiner Stimmung, einen weiten Bogen machen. So reagieren auch Leser.
3. Die Identifikation
Im ersten Romanauszug wird der Leser mit einer Situation konfrontiert, die er aus eigener Anschauung wahrscheinlich nicht kennt: mit einer Pressekonferenz. Anders gesagt: Die Identifikation mit dem Ich-Erzähler fällt nicht leicht. (Dass sie hier dennoch gelingt, liegt in erster Linie an etwas anderem: Der Roman ist bereits der dreizehnte der Reihe um den Ermittler Alexander Gerlach, sodass die Identifikation der meisten Leser in den vorangehenden Bänden erfolgen konnte.)
Anders das zweite Beispiel. Der Anfang von »Drei Tage im Mai« erlaubt sofortige Identifikation. Jeder Leser hat schon mal einen solchen Tag erlebt, jeder Leser hat sich schon mal auf ein ruhiges Wochenende gefreut, jeder Leser kennt den Streit mit Partner oder Kindern oder den Ärger mit dem TÜV.
Der Ich-Erzähler ist dem Leser spontan sympathischer als der aus dem ersten Beispiel – und da es sich beide Male um denselben Autor handelt, der die Bücher zudem kurz hintereinander geschrieben hat, beeinflussen also nicht in erster Linie die Unterschiede zwischen Autoren und ihrem grundlegenden Stil die Sympathie.
Das zweite Beispiel ist daneben auch ein Argument dafür, mit einer Szene aus dem gewöhnlichen Leben des Protagonisten in den Roman einzusteigen: Die Identifikation fällt leichter. (Dass es auch Gegenargumente hierfür gibt, sei hier nur am Rand erwähnt. Das ist ein eigenes Thema.)
Prüfen Sie den Anfang Ihres aktuellen Romanprojekts bezüglich der verwendeten Wörter, der Gestimmheit und der Leichtigkeit der Identifikation. Können Sie Ihrem Protagonisten ein paar positive Wörter unterschieben? Muss seine Stimmung so extrem niedergeschlagen oder verärgert sein? Können Sie ihn bei etwas zeigen, was der Leser rasch versteht und nachvollziehen kann?
Alles davon erleichtert die Sympathie. Was nicht heißt, dass es nicht gute Gründe für Sie geben mag, anders einzusteigen. Sie sollten sich nur bewusst sein, was Sie da schreiben, und es mit Ihren Zielen abgleichen.
Für das Oberziel »begeisterte Leser«.
Stephan Waldscheidt
»Dass ich meinen Roman-Erstling erfolgreich in einem großen Publikumsverlag unterbringen konnte, verdanke ich zu einem guten Teil den Schreibratgebern von Stephan Waldscheidt.« (Marlies Folkens)
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