Schreib-Tipp: Harte Entscheidungen – von gewöhnlich zu herausragend

Wenn Konflikte einen Roman wie einen Motor antreiben – jeder Konflikt eine eigene Zündung –, dann sind Entscheidungen des Protagonisten die Lenkbewegungen, die dem Auto Roman sagen, wo es hinzufahren hat.

Sprich: Lassen Sie Ihre Charaktere zu lange keine Entscheidungen treffen, fährt Ihnen der Roman gegen den nächsten Baum. Oder landet hundert Meter tiefer im Meer.

Die großen Entscheidungen heißen auch Plotpoints oder Wendepunkte. Sie sorgen an den Kreuzungen für die Richtungsänderung. Doch auch die weniger bedeutsamen Entscheidungen sind permanent notwendig, kleine Lenkbewegungen, die das Auto auf Kurs halten, Kurven durchfahren und Schlaglöchern ausweichen. Oder einer überraschend auf die Straße gesprungenen Wildsau.

Kleine Entscheidungen der Protagonistin können sein: In welches Café gehe ich, um mich mit dem Informanten zu treffen? Rufe ich meinen Kontakt bei Interpol gleich an oder warte ich, bis ich die Ergebnisse des DNA-Tests habe? Verrate ich Mutschler, dass seine Tochter im Rotlichtmilieu gesehen wurde oder benutze ich die Information, um das Mädchen zu einem Geständnis zu bewegen?

Große Entscheidungen sind die, die einen anderen Kurs festlegen und damit den kompletten Plot(-strang) in eine andere Richtung drehen – die alte Route im GPS wird gelöscht und der Protagonist tippt eine neue ein.

Was harte Entscheidungen sind

Dann gibt es da noch solche Entscheidungen, wie sie Shane in der TV-Serie »The Walking Dead« (Staffel 2, Episode 3; Drehbuch: Scott M. Gimple) trifft. Ich nenne sie harte Entscheidungen. Sie sind der Stoff, der eine gewöhnliche Geschichte zu einer herausragenden machen kann.

Carl, der kleine Sohn des Protagonisten Rick, wurde bei einem Jagdunfall angeschossen. Ein Arzt könnte ihn operieren, aber dazu braucht ein er Beatmungsgerät. Shane erklärt sich bereit, das Gerät zu besorgen. Eine Weile war Carl für ihn so etwas wie ein Sohn, er liebt den Jungen wie sein eigen Fleisch und Blut.

Das Problem: Das Gerät befindet sich in einer High-School, die von Zombies wimmelt. Shane wird von Otis begleitet. Otis ist es, der Carl aus Versehen angeschossen hat. Shane und Otis finden das Gerät, doch der Weg nach draußen und zurück zu ihrem Wagen ist von Zombies verstellt. Irgendwie können sich die beiden den Weg freischießen. Shane aber ist verletzt, Otis zu schwerfällig, beide können nicht schnell rennen und die Zombies holen auf. Und dann geht auch noch die Munition zur Neige.

Das ist der Moment, wo Shane seine harte Entscheidung treffen muss.

Er entscheidet sich für Carl – und für sein eigenes Leben.

Er schießt Otis ins Bein.

Die Zombies fallen über den Verletzten her, wodurch Shane mit dem Beatmungsgerät auf dem Rücken entkommen kann.

Shane entscheidet sich auch dafür, einen Mann zu erschießen, der ihm eben erst das Leben gerettet hat. Er entscheidet sich dafür, einen Mann zu erschießen, der zu der Familie gehört, bei der Carl gerade ist, zu der Familie, der Carl sein Leben zu verdanken haben wird.

Harte Entscheidungen sind solche, die den Kurs des Romans verändern können – weil sie erschütternde Konsequenzen haben. Ganz sicher aber verändern sie den Charakter, der die Entscheidung trifft. In unserem Beispiel verändern sie Shane. Er kann kaum noch in den Spiegel schauen. Als äußeres Zeichen seiner Veränderung (und um zu verbergen, dass Otis ihm beim Todeskampf Haare ausgerissen hat) rasiert er sich den Kopf. Die nächsten Folgen der Serie zeigen die Konsequenzen: Sie beweisen, dass Shane ein anderer geworden ist.

Wie kommen solche harten Entscheidungen zustande?

Ihre Grundlage ist ein Dilemma – eine Situation, die zu einer Entscheidung drängt, obwohl beide Alternativen ähnlich schlechte Alternativen sind. Shane hat Carls Leben gegen das eines anderen Menschen abgewogen, der ihm das Leben gerettet hatte. Carls Tod gegen den Tod von Otis. Keine Alternative war erstrebenswert. Shane hat sich trotzdem für eine entschieden.

  • Harte Entscheidungen beenden ein Dilemma auf die Art von Alexander dem Großen – sie lösen den Gordischen Knoten nicht, sondern sie hacken ihn durch.
  • Harte Entscheidungen sind häufig solche, die unter hohem Druck getroffen werden. Weil die Zeit drängt oder man dazu gezwungen wird.
  • Bei harten Entscheidungen geht es um eine Menge. In unserem Beispiel geht es um Menschenleben. In Erzählsprache übersetzt: Für den Entscheider steht eine Menge auf dem Spiel.
  • Harte Entscheidungen sind dementsprechend häufig Entscheidungen, bei denen starke Emotionen mitspielen. Bei Shane etwa die Liebe zu Carl und zugleich das Bewusstsein, sich nach der Entscheidung selbst für seine Tat zu hassen.
  • Harte Entscheidungen ziehen harte Konsequenzen nach sich. Schuldgefühle etwa oder aber den Hass derer, die bei der Entscheidung den Kürzeren gezogen haben. In Shanes Fall muss er damit rechnen, dass er aus der Gemeinschaft der Farm ausgeschlossen wird, die ihn und seine Mitstreiter aufgenommen hat. Er muss sogar damit rechnen, dass sie alle die Sicherheit der Farm verlassen müssen – aufgrund seiner Entscheidung.
  • Eine harte Entscheidung hat oft langfristige Konsequenzen. Shane trägt das Geheimnis mit sich, denn niemand weiß, was er getan hat. Er lügt und lügt und das Geheimnis zerfrisst ihn. Und was, wenn doch jemand herausbekommt, was er Otis angetan hat? Sie liefern Konfliktstoff für den weiteren Verlauf des Romans.
  • Harte Entscheidungen sorgen so oft für noch mehr oder für noch größere Konflikte als den, den sie (womöglich nur vorübergehend) gelöst haben.

Schreibtrick: Entscheidungen und Spannung

Entscheidungen können Sie als ein mächtiges Instrument zur Erzeugung von mehr Spannung und insbesondere von mehr Suspense verwenden.

Da Spannung im Wesentlichen ein ungelöster Konflikt ist, bauen Sie Spannung auf, indem Sie die Entscheidung darstellen, bevor ein Charakter sie trifft. Die Spannung sollte in einem Verhältnis zur Wichtigkeit der Entscheidung stehen. Sprich: Je wichtiger die Entscheidung, desto eher sollten Sie darüber schreiben und desto ausführlicher sollten Sie das Dilemma vor der Entscheidung und die möglichen oder wahrscheinlichen Konsequenzen nach der Entscheidung beschreiben. Ihr Ziel ist es, dem Leser vor Augen zu führen, wie schwierig die Entscheidung für den Charakter ist. Haben Sie zuvor für eine Identifikation des Lesers mit dem Charakter gesorgt, wird der Leser die Schwierigkeit nachempfinden. Und je tiefer Sie die möglichen schrecklichen Folgen der Entscheidung betrachten, desto mehr wird die ängstliche Erwartung des Lesers wachsen.

Spannung und Suspense gehen dann nach der Entscheidung nahtlos weiter. Der Leser fragt sich gespannt, ob tatsächlich die vorher beleuchteten schrecklichen Konsequenzen folgen. Oder ob womöglich etwas noch Schlimmeres geschieht.

An dieser Stelle können Sie Ihre Meisterschaft als Autor oder Autorin unter Beweis stellen: Indem Sie dem Leser zuvor zwei mögliche Folgen präsentieren – und ihn jetzt mit einer dritten überraschen.

Stephan Waldscheidt

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