Schreib-Tipp: Nebenfiguren-No-Go: Wie gerade vom Autor auf die Bühne gerufen

Die mit viel Kritikerlob bedachte TV-Serie »The Nightmanager« (Großbritannien 2016; Drehbuch: David Farr) hat ein Problem mit ihrem Skript, das man ansonsten eher bei unerfahrenen Autoren findet. Dabei ist David Farr ein sehr erfahrener Drehbuchautor! Das ist einerseits tröstlich, zeigt es doch, dass man es auch als weniger guter Autor weit bringen kann. Andererseits ist es traurig, weil es belegt, wie wenig Sorgfalt selbst bei so aufwendigen Produktionen auf eine sauber erzählte Geschichte gelegt wird.

Welche Fehler sind das, welche Auswirkungen haben sie und wie können Sie die Fehler in Ihrem eigenen Roman vermeiden?

1. In vielen Szenen wirken die Charaktere, wie gerade vom Autor oder der Regisseurin auf die Bühne gerufen. 

Sie stehen, sitzen oder liegen herum, und ein anderer Charakter gesellt sich zu ihnen, und der Dialog kann losgehen.

Das wirft gleich mehrere Probleme auf:

* Die Szenen wirken statisch.

Warum ist so etwas ein Problem?

Den Szenen fehlt es an Leben. Für den Leser fühlt es sich an, als passiere nichts oder zu wenig. Auch wirken solche Szenen eben nicht lebensecht, sondern inszeniert und daher auch oft unglaubhaft. Statische Szenen wirken nicht, als brächten sie den Plot voran, selbst wenn sie das durchaus leisten sollten.

Was können Sie dagegen tun?

Lassen Sie die Charaktere in der Szene etwas tun, statt ihnen einfach ein Getränk in die Hand zu geben und eine Aussicht, in die sie intensiv und philosophisch Löcher hineinstarren können (was Tom Hiddleston anscheinend am besten kann). Das kann etwas ganz Banales sein: Lassen Sie einen der Charaktere joggen, und der andere versucht, mitzuhalten. Vielleicht ist er unsportlich, muss aber dringend etwas loswerden. Schon aus solch in sich wenig spektakulären Situationen ergeben sich automatisch auch interessantere Dialoge.

Als Motor solcher Aktivität bietet sich an, mindestens dem zentralen Charakter der Szene ein Ziel zu geben, das er dann aktiv verfolgt. Auch so wird die Szene automatisch dynamischer.

Wie können Sie es vermeiden?

Noch besser, als an den Symptomen herumzudoktern, ist es, wenn Sie statische Szenen von vornherein ausschließen. Dazu bietet sich das Setting an. Viele der statischen Szenen spielen sich auf einem Superreichen-Wohnsitz ab (wobei »stattfinden« das passendere, weil statischere Verb wäre). Dort hat man eben nicht mehr zu tun, als mit einem Drink am Pool zu stehen oder am Strand, auf einer Party usw. Wenn Sie die gleiche Szene mitten in einem unter Beschuss stehenden Wohngebiet in Aleppo stattfinden ließen, würde schon das für mehr Dynamik sorgen.

Dringlichkeit hilft ebenfalls, eine Szene aufzupeppen. Auch hier reichen schon banale Veränderungen. Beispielsweise muss einer der Charaktere dringend weg, weil sein Flieger geht und nicht auf ihn wartet. Der andere muss seinen beeinflussenden Dialog sehr viel schneller loswerden, Störungen, Missverständnisse und Ähnliches gewinnen an Bedeutung, da jede Sekunde zählt.

* Die Szenen ähneln einander, sodass man nach einer Weile den Eindruck hat, die gleiche Szene mehrfach gesehen zu haben.

Warum ist das ein Problem?

Der Leser hat das Gefühl, die Geschichte trete auf der Stelle, statt wacker voranzuschreiten. Veränderungen werden nicht spürbar. Der ganze Plot wirkt zäh. Manche dieser Szenen wirken selbst dann redundant, wenn in ihnen etwas Neues besprochen wird.

Was können Sie dagegen tun?

Wechseln Sie in jeder Szene das Setting. Das funktioniert auch dann, wenn alle Szenen im selben Haus oder sogar im selben Raum spielen. Dazu können Sie beispielsweise diese Dinge verändern: Charakterkonstellation (wer ist in der Szene anwesend?), Erzählperspektive, Wetter (das im Raum das Licht verändert oder Regen gegen die Fenster prasseln lässt), Tageszeit, Jahreszeit (die wiederum die Kleidung beeinflusst), Störungen (Stromausfall, Unfall, Telefonat usw.), Bedrohungen (Beschuss, Erdbeben). In den Szenen von The Nightmanager herrscht auf Mallorca stets das gleiche schöne Sommerwetter, in dem Elizabeth Debicki und Tom Hiddleston besonders hübsch aussehen.

Wie können Sie es vermeiden?

Bauen Sie den Plot und die Charakterentwicklung so, dass Sie sich damit selbst zu veränderten Schauplätzen zwingen. Indem der Roman über einen längeren Zeitraum spielt, an unterschiedlichen Orten usw. Geben Sie Ihren Charakteren Gründe, sich in verschiedenen Zimmern aufzuhalten, weil sie eben andere Dinge tun müssen (einmal kochen sie in der Küche, dann arbeiten sie in der Garage, dann relaxen sie im Garten oder joggen um den See).

2. Die Charaktere haben nichts zu tun.

Man hat als Zuschauer das Gefühl, die Charaktere sind keine, sondern bloße Rollen, Pappkameraden. Eine TV-Serie hat gegenüber dem Roman den Vorteil, dass der Zuschauer die Schauspieler sieht. Und die sind ebenso sichtbar, ob sie nun gut oder schlecht agieren, oder ob das, was sie tun, durchdacht oder oberflächlich ist. Bei Ihrem Roman jedoch haben Sie keinen Tom Hiddleston oder Hugh Laurie, der Ihre Leser von diesen Schwächen ablenkt.

Warum ist das ein Problem?

Die Charaktere verlieren an Reiz. Sie wirken langweiliger, als sie sein sollen, und weniger aufregend, als sie sein könnten.

Vor allem aber untergräbt es die Glaubwürdigkeit. So hat Corkoran, die rechte Hand des Oberbösewichts Roper und eine der zentralen Figuren der Serie, in sehr vielen Szenen schlicht nichts zu tun als mit oder ohne Getränk herumzustehen oder herumzusitzen. Was deshalb extrem unglaubhaft ist, weil ein so wichtiger Geschäftsmann, der mit Milliarden jongliert, so ziemlich den ganzen Tag arbeiten würde. Und wenn er nicht arbeitet, würde er telefonieren, um seine ganzen Kontakte und Netzwerke zu kontrollieren. Sprich: Man nimmt dem Mann nicht ab, dass er so eine wichtige Position bekleidet oder dass die Organisation, für die er arbeitet, tatsächlich so mächtig und einflussreich ist.

Was können Sie dagegen tun?

Gehen Sie jedem Charakter immer etwas zu tun. Ein Dialog wird ja schon dadurch interessanter, wenn beide Dialogpartner gerade keine Zeit zum Reden haben oder lieber etwas anderes tun möchten. Das gibt dem Dialog eine Grundspannung, bevor auch nur ein Wort gefallen ist.

Wie können Sie es vermeiden?

Gehen Sie von Anfang an tiefer in Ihre Charaktere. Machen Sie sich keine Gedanken über ihr Aussehen, sondern darüber, wie der Tagesablauf eines solchen Menschen aussähe, welche Dinge er tun würde, mit wem er reden, was und wo er arbeiten würde. Denken Sie die Charaktere gründlich(er) durch.

3. Die Charaktere wirken nicht durchdacht.

Verwandt mit dem Problem Nummer 2 geht das hier noch tiefer. Auch hier ist es wieder bei Corkoran besonders augenfällig. Ganz zu Anfang, als Tom Hiddlestons Charakter Pine (alias Quince alias Birch) in die Organisation des Schurken Roper eingeschleust wird, ist Corkoran der Einzige, der dem neuen Mann misstraut. Doch dieses Misstrauen bleibt oberflächlich, das heißt: ohne Konsequenzen. Er misstraut Pine weiter durch die Episoden hindurch, sein Misstrauen eskaliert zwar in Episode 5, als er, sehr betrunken, in einem Restaurant eine Szene macht. Doch eine Tat ergibt sich daraus nicht: Corkoran misstraut weiter in der Gegend herum, aber dabei bleibt es.

Warum ist das ein Problem?

Die Szenen ähneln einander. Gefühlt gibt es in jeder Episode mindestens eine Szene, wo Corkoran mit Pine spricht und ihm sagt, er misstraue ihm. Tatsächlich passiert aber nichts. Vor allem fehlt es an Eskalation. Ein angeblich so cleverer Typ wie Corkoran würde im Hintergrund alle möglichen Strippen ziehen, um Pine zu entlarven. Das wird anfangs auch angedeutet. Dann aber gibt Corkoran die Suche nach dem wahren Pine anscheinend auf.

Das untergräbt den Charakter von Corkoran gleich mehrfach: Er wird unglaubhaft und er wird uninteressant, außerdem verliert er seine – anfangs stark spürbare – Bedrohlichkeit. Sprich: Für den Leser sinkt die Suspense. Die Frage »Wird Corkoran Pine entlarven?« verliert ihre Dringlichkeit.

Zudem vergibt der Autor die Chance, die Spannungsschraube weiter zuzuziehen. Vielleicht kann Corkoran Pine tatsächlich nicht entlarven – aber dann müsste er anderes tun, etwa eine Intrige gegen Pine spinnen.

Das riesige Potenzial, das eine hochinteressant eingeführte Figur wie Corkoran mitbringt, wird nahezu komplett verschenkt. Dito die mögliche Spannung.

Was können Sie dagegen tun?

Das Problem lässt sich nicht in Einzelteilen lösen, also nur auf eine Szene bezogen. Siehe nächster Punkt.

Wie können Sie es vermeiden?

Denken Sie Ihre Charaktere auch zwischen den Szenen durch, die Sie dem Leser zeigen. In Film und Fernsehen lenken hübsche Schauspieler und Schauplätze und Action den Zuschauer leichter ab, als Sie das bei Ihren Lesern schaffen.

Sie sollten für den Charakter einen kompletten Erzähl-/Handlungsbogen erfinden. Dann lassen sich auch die Szenen leichter schreiben, denn Ihnen fallen viel bessere Dinge ein. Was der Charakter in einer der (für den Leser sichtbaren Szenen jenseits der Backstory) tut, ergibt sich dann fast automatisch.

Auch der zweite Punkt oben (Charaktere haben nichts zu tun) wird fast von allein gelöst, wenn Sie den dritten Punkt hier in den Griff bekommen.

Ihr Roman und seine Charaktere haben so viel Potenzial. Nutzen Sie es.

Stephan Waldscheidt

Viel mehr Tipps zum Plotten finden Sie in dem Schreibratgeber:

»Plot & Struktur – Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen«, »Alle Waldscheidts sind gut. Aber dieser ist der Beste.« (pe), »Dass ich meinen Roman-Erstling erfolgreich in einem großen Publikumsverlag unterbringen konnte, verdanke ich zu einem guten Teil den Schreibratgebern von Stephan Waldscheidt.« (AC)

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