Der Bauunternehmer Michael hat ein Problem. Seine frisch errichtete Siedlung von Öko-Häusern ist unter der Erde nicht so ökologisch wie geplant – Subunternehmer Vic hat heimlich die geplanten Öko-Abwasserrohre durch billige PVC-Rohre ersetzt und sich danach aus dem Staub gemacht. Mit Micheals Geld, Michaels gutem Ruf, Michaels Zukunft. Kein Wunder, dass Michael sauer ist. Er ruft den befreundeten Privatdetektiv Hank an, um Vic zu finden. Als Hank Michael zurückruft und sagt, dass Vic unauffindbar ist, wird Michael sauer, reagiert über, wirft dem Detektiv Frechheiten an den Kopf.
Nach dem Telefonat bereut Michael seinen Ausbruch sofort. Er will Hank zurückrufen und sich bei ihm entschuldigen.
Eine wenig spektakuläre Situation aus dem hoch spannenden Thriller »You’re Next« von Gregg Hurwitz (Sphere 2010). Nicht das Spannende, sondern dieses wenig Spektakuläre sehen wir uns genauer an. Viele Autoren begehen den Fehler und konzentrieren sich beim Aufbau von Spannung und Suspense auf die wenigen, großen Ereignisse in ihrem Roman. Die sind natürlich enorm wichtig. Aber Spannung nur dort genügt nicht, um einen Pageturner zu schreiben.
Spannung gehört auf jede Seite – das heißt konkret: Sie muss auf jeder Seite generalüberholt, erneuert, intensiviert werden. Stellen Sie sich das tatsächlich mal wie Strom vor und Ihren Romantext wie eine Stromleitung. Je länger Sie den Text machen, desto länger wird die Spannungsleitung – und desto mehr Strom müssen Sie anlegen, damit am Ende der Leitung (= die Stelle, an der der Leser sich gerade befindet) noch genug Strom ankommt, um Spannung zu erzeugen. Mehr als das: Am Ende der Leitung soll mehr Spannung da sein als am Anfang. Dann schalten Sie neue Stromquellen dazwischen, wieder und wieder. Diese Stromquellen heißen bei uns Autoren auch – Konflikte.
Ein Autor, der das nicht versteht, hätte Michael sofort bei Hank anrufen lassen. Michael hätte sich entschuldigt – der Konflikt wäre beseitigt gewesen. Stattdessen kommt Michael etwas dazwischen. Die Folge: Der Konflikt zwischen den beiden schwelt weiter.
Wenden Sie dieses Mittel mehrfach an, sorgen Sie für eine Atmosphäre, die den Leser permanent am Rand seines Stuhls hält, eine eher unterschwellige Spannung, die zu den eigentlichen großen Spannungsmomenten Ihres Plots hinzukommt und eine aufregende Basis für sie bietet.
Diese Methode ist auch ein hervorragendes Mittel, Konflikt und Dauerspannung in Situationen zu bringen, denen es an einem großen Spannungsmoment fehlt. Das können Szenen sein, in denen Sie dem Leser vor allem Informationen übermitteln, allgemein Exposition.
Auch eignet sich die Methode der ungelösten Konflikte, wie in unserem Beispiel aus »You’re Next«, hervorragend dazu, Konflikte in die Beziehungen verbündeter Charaktere zu bringen. Auf diese Weise sorgen Sie dafür, dass es nicht nur zwischen Gut und Böse konfliktreich schwelt, sondern auch zwischen Gut und Gut und zwischen Böse und Böse.
Wie kriegen Sie so etwas auch in Ihren Roman hinein? Sehen Sie sich dazu Konflikte an, sagen wir, einen Streit zwischen zwei Brüdern, die gemeinsam gegen die Mafia kämpfen. Anstatt den Streit komplett zu erzählen – mit Anfang, Eskalation, Höhepunkt und Auflösung –, brechen Sie den Streit im Höhepunkt ab. Bevor es zur Aussöhnung kommt, schicken Sie ein paar Gewehrkugeln zum Fenster hinein. Die Brüder müssen ihr Leben retten, ihr Streit bleibt ungelöst.
So ein Konflikt sollte nicht nur des Konfliktes wegen ungelöst bleiben – er kann in kommenden Szenen für eine veränderte Ausgangsbasis sorgen. Wenn sich die Brüder das nächste Mal unterhalten, beginnt ihre Unterhaltung eben nicht neutral. Sie beginnt schon auf einem höheren Konfliktniveau. Auf diese Weise wird die Unterhaltung anders ablaufen, als wenn der Konflikt in der Szene davor gelöst worden wäre.
Für den Leser wird die Szene interessanter – und eine Eskalation des Konflikts wird wahrscheinlicher. Würden sich die Brüder nach einem gelösten Konflikt während ihres ersten Streits bei einem zweiten Streit entzweien, wirkte das übertrieben und nicht sehr glaubhaft. Wenn Sie aber auf einen schwelenden Konflikt noch einen draufsetzen, können sich die Brüder nach der zweiten Szene durchaus glaubhaft und für den Leser nachvollziehbar so in die Haare geraten, dass sie fortan getrennte Wege gehen. Und das nur, weil Sie den Streit in der Szene davor rechtzeitig abgebrochen haben!
Dazu gehört von Ihrer Seite auch eine Portion Selbstüberwindung. Denn die meisten von uns sind eher harmoniebedürftig, was wir allzu leicht auf unsere Charaktere übertragen. Erlauben Sie sich in Ihren Romanen, auch mal die unwirsche, unversöhnliche, angriffslustige Seite von sich herauszulassen. Der Leser wird sich freuen.
Stephan Waldscheidt
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