Leser sind schon komische Geschöpfe. Sie lieben es sogar, getäuscht und in die Irre geleitet zu werden. Dafür stellen Sie Ihnen als Autorin oder Autor einen Freibrief aus. Das ist so etwas wie ein ungeschriebener Vertrag zwischen Ihnen und Ihren Lesern. Darin verpflichten Sie sich, den Leser zu unterhalten, unter anderem eben auch durch Täuschungen, falsche Hinweise, rote Heringe oder die Lügen eines unzuverlässigen Erzählers. Im Vertrag steht auch, dass Sie diese Irreführungen so gestalten, dass sie im Nachhinein nachvollziehbar sind – und dass sie so erscheinen, als hätte der Leser sie durchschauen können.
In »Blade Runner 2049« (USA, Großbritannien, Kanada 2017; Regie: Denis Villeneuve; Drehbuch: Hampton Fancher, Michael Green) jagt Blade Runner K. Replikanten – künstliche Menschen, die außer Kontrolle geraten sind. Die Ironie: Auch K. ist ein Replikant. So weit, so bekannt.
Achtung, falls Sie den Film noch nicht gesehen haben: ab sofort Spoiler-Alarm.
Er besitzt Erinnerungen, was nicht ungewöhnlich ist. Replikanten werden künstliche Erinnerungen eingepflanzt. Das Ungewöhnliche ist: Eine von K.s Erinnerungen scheint echt zu sein. Darin flieht er, noch ein kleiner Junge, in einem stillgelegten Kraftwerk vor anderen Jungs, die ihn verprügeln und bestehlen und ihm das Einzige abnehmen wollen, was er besitzt: ein kleines, geschnitzes Holzpferd.
Für K. hängt an dieser Frage alles. Hat er als Replikant eine Seele? Ist er so viel wert wie ein Mensch aus Fleisch und Blut? Kann es sogar sein, dass er das eine Kind ist, das erste Kind, das von einer Replikantin geboren wurde?
K. macht sich auf die Suche nach dem Ursprung der Erinnerung. Als Erstes stattet er einer der Erinnerungsmacherinnen eine Visite ab, der Erinnerungskonstrukteurin Dr. Ana Stelline. Sie sagt K., die Erinnerung wäre tatsächlich keine konstruierte, sondern eine echte. Sowohl K. als auch Ana reagieren sehr emotional auf diese Erkenntnis. Für den Leser sind die Information als auch die Emotion ein erster Beweis dafür, dass K.s Erinnerung tatsächlich seine eigene ist, dass er also tatsächlich einmal ein Kind war und nicht als erwachsener Replikant mit Erinnerungsimplantaten gebaut wurde.
K.s zweite Station ist eine alte Fabrikruine, die er als das Kraftwerk aus seiner Erinnerung erkennt. Er findet das Versteck des Holzpferdchens und er findet das Pferdchen. Noch ein Beweis für die Richtigkeit seiner Erinnerung! Und auch dieser wird durch K.s sehr emotionale Reaktion verstärkt und für den Zuschauer überzeugender gemacht.
Zumindest glaubt der Zuschauer an diesen Beweis. Tatsächlich war der längst überzeugt, dass die Erinnerung eine echte ist, schon bevor K. die Erinnerungskonstrukteurin aufgesucht hatte. Haben die Filmemacher also die Zeit der Zuschauer mit diesen beiden Beweisen verschwendet? Das hätten sie – wenn die Erinnerung tatsächlich K.s gewesen wäre.
Die Wahrheit sieht, wie sich später herausstellen wird, anders aus. Die Erinnerung ist keine künstliche, darin hat Ana nicht gelogen. Doch was sie nicht gesagt hat: Die Erinnerung gehört nicht K., sondern sie gehört ihr. Ana war es, die vor den Jungs geflohen ist, sie hat das Pferdchen in der Asche versteckt.
Die Beweise sollten den Zuschauer also nicht davon überzeugen, dass K. ein von einer Replikantin geborener Replikant ist – sie sollten vielmehr dafür sorgen, dem Leser den Trick zu verkaufen, mit dem die Autoren ihn aufs Glatteis führen wollen.
Wenn Sie in Ihrem Roman den Leser hinters Licht führen wollen, sollten Sie folgendes beachten:
Präsentieren Sie ihm die Täuschung nicht nur oberflächlich. In »Blade Runner 2049« wäre das etwa der Fall gewesen, wenn K. lediglich die Erinnerung gehabt hätte. Dadurch, dass die Autoren K. gezielt danach suchen lassen, machen sie den Beweis anschließend glaubhafter, weil dynamischer, szenischer, lebendiger und dramatischer.
Erzählen Sie sie auch nicht einfach nur von der Täuschung. Auch das Erzählenlassen, etwa über einen der Charaktere in einem Dialog, ist nicht überzeugend genug. Wenn in »Blade Runner 2049« K. beispielsweise nur seiner Geliebten von dem Traum erzählt hätte und von seiner Überzeugung, der Traum wäre echt.
Als Folge dieser weniger überzeugenden Darstellungen wäre der Zuschauer von der Enthüllung lange nicht so überrascht und auch nicht so emotional bewegt worden. Vielleicht hätte er sie auch eher durchschaut.
Überhaupt, die Emotionen. Diese machen in unserem Beispiel den Beweis nicht nur intellektuell glaubhafter, sondern auch emotional durchschlagender. Außerdem lenken sie von der Wahrheit ab: K.s emotionale Reaktion auf die Aussage der Erinnerungskonstrukteurin lenkt den Zuschauer von den Tränen der Frau ab, die von nicht von K.s Erinnerung zu Tränen gerührt wird, sondern von ihrer eigenen.
Wenn Sie Ihre Leser reinlegen wollen, dann richtig. Das sind Sie ihnen schuldig.
Stephan Waldscheidt
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»Dass ich meinen Roman-Erstling erfolgreich in einem großen Publikumsverlag unterbringen konnte, verdanke ich zu einem guten Teil den Schreibratgebern von Stephan Waldscheidt.« (Marlies Folkens)
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