(Die gefährlichsten und häufigsten Fehler beim Schreiben eines Romans – Erkennen, beheben, vermeiden, Teil 4)
Im letzten Artikel der Reihe (Ich habe da eine Idee für einen Roman) habe ich auf die Gefahren hingewiesen, die zu wenige Ideen mit sich bringen. Das andere Extrem kann jedoch ebenfalls zur Falle werden.
Ich kenne das selbst leider zu Genüge. Da hat man sich einen interessanten Plot zurechtgelegt, und beim anschließenden Schreiben fällt einem noch dieser neue Charakter ein, jener Subplot bietet sich an und folgender Umweg muss ebenfalls dringend gegangen werden. Und dann schießen die Einfälle erst so richtig ins Kraut … Was das aus einem Roman machen kann, verdeutlicht am besten ein Bild eines Hauses.
Sie als Architekt (planen) und Baumeister (schreiben) in Personalunion haben die Pläne gezeichnet und die Baumaterialien vorbereitet. Alles passt zusammen, die Statik stimmt und genug Mauersteine sind auch vor Ort. Aber während Sie die Außenwand auf der Südseite hochziehen, kommt Ihnen noch die Idee zu einem kleinen Anbau hier. Und auf den Anbau muss natürlich ein Dach. Mit einer Luke. Auf die aber fällt zu viel Sonne, also bauen Sie das Stockwerk darüber ein bisschen breiter. Und ein Türmchen auf der Westseite wäre doch auch allerliebst. Vielleicht eine Dachterrasse mit Pool? Unbedingt. Irgendwann treten Sie mal wieder ein Stück zurück von Ihrem Bau und stellen entsetzt fest, dass das auf den Plänen so gefällige Häuschen jetzt aussieht wie der Bastard von Neuschwanstein und dem Bauhaus – kaum denken Sie das, stürzt einer der sieben neuen Türme ein und begräbt den Südanbau unter sich. Was wiederum die Statik so durcheinanderbringt, dass der gefüllte Pool durchs Flachdach bricht und das Wasser das Erdgeschoss flutet.
Nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie beim Schreiben feststellen, dass etwas besser funktioniert als die Idee, die Sie ursprünglich hatten. Vorsichtig aber sollten Sie bei all zu leichtfertigen Bauchentscheidungen sein. Oftmals fühlen die sich im Moment an wie tolle und vollkommen schlüssige Ideen. Hätten Sie sich die Zeit genommen, ein wenig darüber nachzudenken, wäre Ihnen jedoch schnell klargeworden, wie unausgegoren, ja, schädlich die Idee war.
Denn neue Ideen in einem ansonsten wohlgefügten Romankonstrukt haben viele Auswirkungen. Oft verkomplizieren Sie eine Situation unnötig – und zwar so extrem, dass beispielsweise der eben noch nachvollziehbare Plan des Antagonisten so verdreht und verschwurbelt wird, dass kein Leser ihn mehr kapiert. Oder glaubt.
Sobald Sie die Anwandlung überkommt, noch einen Dreh und noch einen Dreh und noch einen auf den raffinierten Plan draufzusetzen, rufen Sie sich folgende Aufforderung ins Gedächtnis: Keep it simple, stupid! (Halt es einfach, Dummerchen!), oder abgekürzt: KISS. In den meisten Fällen werden Sie feststellen, dass die simplere Variante schlüssiger, logischer und glaubhafter ist – und Ihnen weit weniger Arbeit macht. Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Ideen jonglieren. Drei Bälle gehen vielleicht noch. Aber halten Sie mal vier oder fünf in der Luft.
Besonders sinnvoll ist das KISS-Prinzip bei der Prämisse Ihres Romans. Je einfacher Sie diese machen, desto leichter fällt Ihnen das Schreiben – und, auch wenn sich das zunächst paradox anhört, desto komplexer kann Ihr Plot werden. Denn Wendungen und Tricks können Sie auf einer einfachen Prämisse als Grundlage viel leichter im Auge behalten und kontrollieren. Und der Leser verliert das große Ganze nicht aus dem Blick, egal, was Sie ihm plotmäßig an Wendungen und Raffinesse zumuten.
Die Krux bei neuen Ideen: Ideen sind selten isoliert, sie sind es insbesondere dann nicht, wenn sie bedeutsam für die Geschichte sind. Sprich: Sie haben Auswirkungen. Dummerweise sind diese Auswirkungen umso verheerender, je dichter der Roman ist – in einem idealen Roman hängt alles mit allem zusammen.
Wird da ein neuer Charakter hineingeschrieben, stellt sich dem Leser die Frage, wieso der Mensch nicht schon vierzig Seiten zuvor aufgetaucht ist, was logisch gewesen wäre. Schleicht sich da ein neues Ereignis in die Handlung, muss es auf den kompletten Roman abstrahlen. Entdecken Sie auf Seite 178 noch eine weitere Leiche im Keller des Protagonisten, wird die bisherige an Wert verlieren, und der Protagonist erscheint auf einmal als Lügner, was die Haltung des Lesers zu ihm verändert und, und, und.
Streng genommen erfordert jede neu hinzukommende (wichtige) Idee und jeder ergänzte Charakter oder Subplot von Ihnen als Autor ein komplettes Neudenken Ihres Romans. Wenn die Idee Ihnen so wertvoll erscheint, sollten Sie bereit sein, auch diese Arbeit zu investieren. Ideen zu haben, ist gut und wichtig, auch noch während des Schreibprozesses und auch für Romanplaner. Treten Sie aber rechtzeitig einen Schritt zurück und durchdenken Sie die Konsequenzen dieser neuen Idee.
Besonders gefährlich ist das bei scheinbaren Kleinigkeiten. Wenn auf Seite 235 plötzlich ein verschollener Bruder auftaucht, hätte die Heldin auf Seite 45 anders über ihre Familie gesprochen, was für Sie vielleicht nur heißt, einen Nebensatz anzupassen. Tun Sie das jedoch nicht, etwa weil Sie die Stelle auf Seite 45 vergessen haben, wird spätestens der Leser diese Diskrepanz entdecken. Unterläuft Ihnen Ähnliches noch zwei oder drei Mal, verliert der Leser das Vertrauen an Sie als Autor. Und das können Sie sich nicht leisten.
Heißt das, Sie sollten neuen Ideen grundsätzlich misstrauen oder Sie gleich ganz außen vor lassen? Keineswegs.
Je weniger Erfahrung Sie als Romanautor haben, desto mehr sollten Sie sich zunächst einmal ausprobieren – einschließlich des Nachgehens Ihrer Ideen. Nur zu, trauen Sie sich was, werden Sie wild! Tun Sie das aber mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass der erste Roman noch nicht gleich publiziert werden muss. Nutzen Sie ihn als Spielwiese und Experimentierfeld.
Je erfahrener Sie beim Plotten werden und je besser Sie Ihre Stärken und Schwächen beim Schreiben kennenlernen, desto mehr dürfen und sollten Sie sich auf Ihre Planung verlassen. Desto zuverlässiger können Sie auch die Konsequenzen neuer Ideen während des Schreibens einschätzen. Lernen Sie, die Ideen zu lenken: Statt beim Schreiben den Plot fünf Mal umzuwerfen, fokussieren Sie sinnvoller auf aktuell verwertbare Ideen, sprich: Wie können Sie die Szene, an der Sie gerade arbeiten, oder den Satz, an dem Sie gerade schreiben, besser machen? Nutzen Sie Ihre Kreativität, um spezifische Details zu finden, die die Szene beleben, oder um das bester aller treffenden Wörter zu entdecken, das aus dem gelungenen Satz einen Hammersatz macht.
Die Rockband KISS war übrigens auch ein Vertreter des Prinzips: einfache Songs haben ihnen großen Erfolg gebracht.
Stephan Waldscheidt
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