Vampirsex im Weltall oder: Wie groß der deutsche E-Book-Markt wirklich ist

E-Books haben aus Buchnischen mächtige Biotope gemacht: Verlage suchen im Longtail nach Talenten; in der Bedeutung hängen Kleinst- und Selbstverleger die traditionellen Verlage ab. Zehn Trends zeigen, wie viel Macht und Geld für clevere Anbieter im EBook-Longtail steckt.

Von Sebastian Halm

Der Longtail des Publishings, die von kleinen Verlagen, Portalen und Selbstverlegern bevölkerte Nische der Literatur, wird eine neue Macht erlangen. Und daran sind vor allem zwei Dinge schuld: 

  • Neben der Erfindung des E-Books sind das vor allem die Selbstabschaffung und
  • die strategischen Fehleinschätzungen zahlreicher großer Verlage.

Besonders fatal: Es gibt kaum Zahlen, die Rückschlüsse über den EBook-Longtail der kleinen und Kleinstverlage zulassen.

Denn der EBook-Markt in Deutschland entzieht sich weitgehend einer genauen Analyse, weil Zahlen Mangelware sind. Einige Dinge lassen sich jedoch aus offiziellen Erhebungen extrapolieren.

Der EBook-Longtail: Schein

  • Verlage: So liegt die Zahl der Verlage in Deutschland laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels bei 6.693, davon publizieren die meisten jedoch Produkte, die sich kaum als Lesestoff bezeichnen lassen: Es sind Publikationen wie Adresslisten oder Telefonbücher. Als Fach- und Belletristikproduzenten bleiben 2.200 Verlage, von denen 53 Prozent E-Books verlegen. Bedeutet: Es gibt knapp 1200 EBook-Verlage in Deutschland.
  • Insgesamt werden in Deutschland schätzungsweise 13,2 Millionen E-Books auf dem Publikumsmarkt verkauft. Nicht darin enthalten sind Schulbücher, Fachbücher und sonstige anderen Titel. Hierfür liegen wiederum keine Zahlen vor.
  • Immerhin wissen wir, dass ein E-Book im Schnitt 7,72 Euro kostet. Macht also einen Gesamtumsatz im Publikumsverlagswesen von rund 102 Millionen Euro.
  • Daraus ergibt sich ein E-Book-Umsatz von rund 85.000 Euro pro Verlag – da im Print Bestseller jedoch rund 80 bis 90 Prozent des Umsatzes ausmachen, dürfte die Verteilung etwas anders aussehen: Es gibt viele kleine Verlage, die nur ein paar tausend Euro machen, und einige wenige große Verlage, die Millionen oder Hunderttausende mit E-Books umsetzen.

Diese offiziellen Zahlen bilden jedoch nur einen Teil des Marktes ab. Es gibt einiges was fehlt.

Der EBook-Longtail: Sein – wie die elektronische Publishing-Landschaft in Deutschland wirklich aussieht

Fragt man den Selfpublishing-Experten Matthias Matting, so entsteht ein vollständigeres Bild. Der Programmleiter E-Books der Münchner Verlagsgruppe betreibt das Branchenportal Selfpublisherbibel.de.

  • Laut Matting liegt die Zahl der Verlage und Selbstverleger in Deutschland deutlich über den offiziell verfügbaren Werten: Zu den Verlagen kommt ein Heer an Selfpublishern, die mit unterschiedlichem Erfolg am Markt tätig sind. Ihre Zahl dürfte bei rund 75.000 liegen, so hat Selfpublisherbibel.de bei einer Umfrage errechnet.
  • Diese Selfpublisher sind mitunter mit großem Erfolg am Markt tätig: So sind etwa in der aktuellen Amazon-Top-1000 Platz zwei und drei selbstverlegte Titel (Honigtot und Unverhofft verliebt). Die Umsätze/Verkäufe pro Tag gehen aus Hochrechnungen von selfpublisherbibel.de hervor. Es zeigt sich: Die Selbstverleger spielen de facto in der selben Liga wie die EBook-Titel der klassischen Verleger.
  • Ähnlich wie bei Print-Titeln schätzt Matting, dass einige Bestseller rund 90 Prozent der E-Book-Umsätze ausmachen. Allerdings:“Im E-Book-Segment machen die Bestseller vielleicht einen ähnlichen Umsatzanteil aus wie in Print”, sagt Matting, “anders als in Print stammen die Bestseller aber nicht zwingend von großen Verlagen, sondern oftmals von Selbstverlegern.”
  • Amazon ist für rund 50 Prozent der in Deutschland verkauften E-Books verantwortlich – repräsentiert also eine reale Marktmacht. In den Top 1000 von Amazon stammen zwei Drittel der Titel von Selfpublishern – Titel, die auf allen Positionen der Rangliste zu finden sind.

Es gibt also neben den offiziell erfassten EBook-Verlagen rund 75.000 Selbstverleger, die mit großem Erfolg tätig sind und auf die Gesamtumsätze des EBook-Marktes Deutschland einzahlen: Dieser ist nach Verlagen gerechnet 62mal größer als aus offiziellen Werten errechenbar ist und wird auch ein entsprechend höheres Umsatzvolumen haben. 

Megatrend eins: Die neue Nische

Damit zeichnet sich ein mächtiger Megatrend ab: Wenn man von einer Nische oder einem Longtail spricht, so trifft dies nur zahlenmäßig auf Kleinstverlage und Selfpublisher zu, die die Mehrheit der Publisher stellen. Was die Bedeutung angeht, laufen die traditionellen Dickfische aus dem Printbereich Gefahr zum Longtail/zur Nische zu werden. 

Trend zwei: Die Nische wächst ins Unendliche

Rechnet man die Selfpublisher als Ein-Mann-Unternehmen mit ein, so gibt es in Deutschland rund 80.000 Verlage. Zwar ist die Majorität des produzierten Contents Schund – doch es lässt sich immer weniger überblicken, was gemeint ist, wenn man vom EBook-Markt in Deutschland redet. Und: Es ist immer weniger zulässig, die Nische oder den Longtail als solche zu bezeichnen, da ihr Beitrag zu Umsatz und Bedeutung des Marktes wächst und sich ständig transformiert – siehe Trend zwei.

Trend drei: Die Nische wird zu Quecksilber – flüssig und nicht greifbar

Es gibt eine EBook-Nische im Sinne eines Biotops von Titeln mit niedrigen Verkaufszahlen. Doch diese ist nicht statisch und auf bestimmte Genres oder Gattungen abonniert. Zwar gilt, was Erhardt Heinold sagt, der Geschäftsführer der Unternehmensberatung Heinold, Spiller & Partner“Der Begriff Nische trifft im EBook-Markt am ehesten auf die Klassiker der Hochliteratur zu: Goethe und Schiller etwa – diese Hochliteratur hat einen niedrigen EBook-Anteil mit geringen Verkaufszahlen.” 

Doch auch diese Definition weicht mehr und mehr auf, glaubt Matthias Matting: “‘Zwölf Jahre als Sklave’ ist ein Klassiker – als die Verfilmung den Oscar gewann, katapultierte das den Titel hoch in die Top Ten auf Amazon. Und das nicht als Ausgabe eines großen Verlages, sondern als von Selfpublishern übersetzte Edition.” Das abgelaufene Copyright des Originaltextes machte es möglich. Jedem anderen Stoff von Goethe oder Shakespeare könnte es genauso gehen, dass er durch äußere Umstände im Interesse für den Mainstream des Publikums steigt. Die Nische ist kein fester Begriff mehr, sondern: Es gibt im Grunde keine Nischentitel oder Verlage mehr. Durch E-Books steckt überall Mainstreampotenzial und Selbstverleger – früher absolute Exoten – generieren nun ernst zu nehmende Umsätze. 

Trend vier: Der EBook-Markt ist ein Print-Labor

Die Verlage haben eigene Selfpublishing-Plattformen errichtet, in denen sie nach neuen Talenten und Bestsellern fischen. So besitzt der Oetinger-Verlag sein Portal Oetinger34, das Autoren, Illustratoren und Lektoren zusammenführen will – und damit beispielsweise über Neobooks hinausgeht, das Selfpublishing-Labor von Droemer Knaur – die Zahl solcher Portale ist groß. 

Doch immer mehr Wettbewerber machen sich daran, die Verleger als Laborbetreiber zu verdrängen: So hat Amazon inzwischen nicht nur sein eigenes Selfpublishing-Tool Kindle Direct Publishing, sondern auch sein eigenes Verlagsprogramm, wie der Buchreport berichtet. Auch die Rolle der Literatur-Agenten und Lektoren saugen immer mehr die Portale in sich auf: “Selbstverleger-Portale wie chichili.de bieten sich aussichtsreichen Selfpublishern als Agenten an, die ihnen bei großen Erfolg Verträge bei Printverlagen besorgen”, sagt Ehrhardt F. Heinold. 

Trend fünf: Longtail und Nischeninteresse stellen immer mehr Bestseller

Noch unter einem anderen Gesichtspunkt bricht die Nische als definierter Begriff auf: Nischige Stoffe stellen immer öfter Bestseller – “Regionalkrimis sind eigentlich ein Phänomen der Literaturnische”, sagt Holger Ehling, Inhaber der Publishing-Strategieberatung Ehling Media“Doch heute sind sie Bestseller – gleiches gilt für Fantasyliteratur, die sich um Zauberlehrlinge dreht – Harry Potter hat aus einem nischigen Ansatz innerhalb des Genres Fantasy einen Mainstreamstoff gemacht.” Dieses Phänomen hat es schon lange vor E-Books gegeben, wird mit E-Book-Selfpublishing aber verstärkt: 

  • E.L. James’ Bestseller der 50 Shades of Grey-Reihe stammen aus dem Selfpublishing und bedienen eigentlich mit Sadomaso-Erotik eine Nische.
  • Tina Folsom oder H.P. Mallory schreiben erfolgreich paranormale Romanzen im Selbstverlag,
  • Michael Sullivan bedient innerhalb des Fantasy-Genres die Nische historische Fantasy.

Mit anderen Worten: Genre-, Regional- und sonstige Experimente mit Stoffen waren früher Nische und nichts als Nische. Heute, durch die digitale Disruption bestärkt, bergen alle Genres Bestsellerpotenzial. 

Trend sechs: Selbstabschaffung der Verlage zugunsten von Crowd und Selfpublishern

“Die Verlage haben viele Experten wie etwa ihre Lektoren auf die Straße gesetzt”, klagt Holger Ehling: “In der Folge sind ihre Dienstleistungen kostengünstig auf dem freien Markt abrufbar geworden.” Selfpublisher und kleine E-Book-Verlage können sich nun leisten, worauf die traditionellen Verleger zunehmend verzichten: Dienstleistung mit Mehrwert wie Übersetzung und Lektorat.

Trend sieben: Preistrieb aus dem Longtail erfasst die Verlage

Die E-Books der Verlage sind zu teuer – ihre Literaturmarken kein Alleinstellungsmerkmal mehr, wie die Amazon-Bestsellerliste zeigt: Ist dem Leser ein Buch zu teuer, dann kauft er eben das günstige Selfpublishing-Erzeugnis. Die Zeiten, in denen die Selbstverleger unter “ferner liefen” rangierten, sind vorbei. Es wächst der Bedarf nach alternativen Preismodellen – wie die iBusiness-Analyse Wieso die Verlage neue Preismodelle zum Überleben brauchen zeigte.

Zudem drängen Start-ups mit neuen Ideen auf den Markt: Readfy etwa erlaubt seinen Lesern kostenlose E-Book-Lektüre – und setzt dabei auf Werbefinanzierung: Zwischen den Seiten gibt es Banneranzeigen, die Erlöse werden zwischen Portal und Contentbesitzer aufgeteilt. Readfy bietet im Moment vor allem das mittlere Segment nicht mehr ganz taufrischer Bestseller und des mittleren Katalogs an. Es will sich künftig aber nach oben und unten öffnen: Sowohl für Selbstverleger als auch für A-Titel von den Bestsellerlisten. 

Trend acht: Wenn der Marketing-Werkzeugkasten wächst, muss das Portfolio schrumpfen

Für Verlage wie für Kleinstportale gilt: Alle müssen weniger Bücher machen, um die vorhandenen Vermarktungsressourcen effektiver auf den eingedampften Katalog aufteilen zu können, prognostiziert Holger Ehling. Die Pluralität an Portalen, die E-Books bieten, Suchmaschinen, Social Media, Mobile und Appstores stellen eine Vielfalt an Marketinginstrumenten dar: Weder große noch kleine Verlage und auch keine Selfpublisher können sie ausspielen ohne eine Konzentration des Portfolios. 

Trend neun: Die Verwertungskette wird aufgebrochen

Noch ist es unter Printverlagen üblich, das E-Book erst deutlich nach dem Hardcover zu publizieren. Je mehr attraktiver Content exklusiv als E-Book erscheint, desto zerbrechlicher wird diese Verwertungskette – Verlage werden es sich schon bald nicht mehr leisten dürfen, Produkte künstlich zurückzuhalten, um den Profit zu maximieren. Statt auf den neuen angesagten Vampirroman zu warten, liest der rührige EBook-Leser dann den thematisch verwandten Klon eines Selfpublishers. 

Trend zehn: Was wirklich noch EBook-Nischen sind

Die Nische ist ein Begriff, der mit der neuen Dynamik des Marktes immer mehr verschwindet – doch es gibt noch Felder, die sich für Experimente eignen, weil sie tatsächlich noch nischig und wenig erschlossen sind: Das ist zum einen die Backlist der Klassiker. Aktuelle Verfilmungen machen hier zwar schnell aus kaum gelesenen Stoffen EBook-Bestseller, doch genau das kann man ausnutzen: Etwa zu Stoffen mit abgelaufenem Copyright eine Übersetzung anbieten. 

Erotik ist eigentlich ein zu erfolgreiches Genre, um als Nische angesehen zu werden – doch de facto ist der Markt stark zersplittert. Die EBook-Kataloge verteilen sich auf viele Portale, Amazon versteckt seine Erotik-Titel ebenso wie Apple und besonders groß ist die Auswahl bei Google Books. Ein spannendes Feld für geneigte Anbieter. 

Kinderbuch: Hier hat die Digitalisierung noch nicht durchgeschlagen: Eltern lesen lieber aus Papiermedien vor. Die EBook-Nische wartet auf einen Gamechanger.

Fazit: Die disruptive Kraft kommt aus der Nische

Um Märkte im Publishing zu erschließen, braucht man heute also eine gute Idee und den Willen und das Wissen, cleveres Marketing zu machen. Nicht mehr und nicht weniger. Es gibt keinen Grund, wieso ein Vampirsexroman, der im Weltall spielt, nicht zum Hit werden sollte – solange er gut gemacht und vermarktet wird. 

So hat Verleger Johannes Zum Winkel 150 EBooks seines Vampirsex-im-Weltall-Romans Raumschiff Ecstasy Vorspiel verkauft (binnen anderthalb Jahren) und 250 Stück vom zweiten Teil (Raumschiff Ecstasy 1.2: Sexvampire). Johannes Zum Winkel hat auch gleich noch eine eigene Website zu dem Titel eingerichtet, den er selber als “nischiger als nischig” bezeichnet.

Auch die EBook-Eigenproduktion von iBusiness, Männer, die auf Parkplätze starren: Warum deutsche Unternehmen mit dem Internet nicht klarkommen verkaufen sich vergleichsweise gut. Obwohl Fachbücher als EBook-Format traditionell nicht so gut performen wie Belletristik, hat das 162 Seiten starke Ebook von Dirk Ploss und Joachim Graf in vier Monaten rund 150 Verkäufe generiert – und das trotz des eher hohen Preises von 3,99 Euro.

Und auch wenn das ‘Raumschiff Ecstasy’ mit Preisen zwischen einem und anderthalb Euro sich auch in Zukunft nicht in das Universum verlegerischer Höchstgewinne warpen dürfte: Die laut Selbstdarstellung “unartigste SciFi-Serie aller Zeiten” belegt: Nischenprodukte funktionieren – und sie werden durch ihre unendlichen Weiten den EBook-Markt mehr verändern als die meisten Bestseller. Selbst ohne Sex, Vampire und sogar ohne Weltraum.

Der Artikel erschien zuerst im Magazin iBusiness. Der zweite Teil “Wie man sich selbst zu einer Nische macht” ist im Rahmen eines Premium-Abonnements des Onlinemagazins zugänglich.