Autoren-Tipp: Der Roman als Best-of

Überlassen Sie der Leserin oder dem Leser das Ausschmücken Ihrer Geschichte

Kaum ein Satz taucht mit größerer Sicherheit in meinen Text-Gutachten für Roman-Autoren auf:

Ein Roman ist keine Gesamtwerksausgabe, sondern ein Best-of.

Viele Autoren aber packen alles in ihren Roman, was ihnen in den Sinn kommt. Der Grund: Sie entwerfen eine Szene in ihrem Kopf und schreiben dann auf, was in dieser Szene geschieht. Dabei vergessen sie etwas Entscheidendes: den Leser. Der nämlich hat seine eigene Phantasie – und die ist ja der Grund, weshalb er liest. Leser wollen, anders als Filmzuschauer, einen Roman zu ihrem Roman machen, die Geschichte selbst mit Bedeutung füllen, mit Emotionen, sie ausschmücken, Fragen stellen, ja, Welten in ihrem Kopf erschaffen.

Diese Lust am Selberfüllen einer Geschichte verlangt vom Autor, dass er dem Leser Freiräume lässt.

Das Ergebnis dieses »Alles muss rein« sind endlose Szenen, in denen nichts geschieht. Denn eine solche Mentalität bringt einen weiteren Nachteil mit sich: Vor lauter Bäumen sehen diese Autoren den Wald nicht mehr. Und die Leser erst recht nicht.

Es geht aber um weit mehr als nur um Freiräume für den Leser. Es geht um eine Verdichtung, damit eine Geschichte ihre maximale dramatische und emotionale Wucht erzeugen kann. Das heißt, dass bei einem Gespräch zwischen Alfred und Marge nicht der komplette Abend nacherzählt werden muss, den die beiden miteinander verbracht haben. Sondern nur ein Teil davon, und zwar genau der, der für die Geschichte relevant – besser: unverzichtbar – ist und einer Dramaturgie mit Spannungsbogen und Höhepunkt folgt.

Sie können nicht ungestraft immer mehr überflüssige Wörter in eine Geschichte packen. Denn das birgt viele Gefahren. Dazu zählen:

  • Wörter nehmen einander die Kraft, sie kannibalisieren sich gegenseitig.
  • Der Leser kann das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen unterscheiden.
  • Der Leser verliert eher den emotionalen Bezug zu den Charakteren.
  • Der Leser fühlt sich durch zu viele Erklärungen und Wiederholungen von Ihnen, dem Autor, nicht für voll genommen. Als hielten Sie ihn für zu dämlich, etwas auf Anhieb zu verstehen.
  • Der Erzählton wirkt behäbig.
  • Die Sprache verliert eher ihren Drive.
  • Ihre Geschichte wirkt weniger dicht.
  • Ihr Roman liest sich langsamer.
  • Die Spannungskurve hängt durch.
  • Ihr Roman erscheint dem Leser langweiliger.
  • Der Leser verliert die Geduld mit den Charakteren und der Geschichte.
  • Ihr Roman wird eher weggelegt, da er mehr irrelevante Stellen hat.

Ihre Geschichte sollte dicht sein wie eine Nudel aus Hartweizengries – der Leser schmeißt sie in das kochende Wasser seiner Imagination. Ihr Roman sollte sein wie ein Bio-Steak höchster Qualität: Muskeln und ein wenig Fett an den richtigen Stellen statt eines aufgedunsenen, wässrigen Kadavers, der in der Pfanne zu nichts und Antibiotika zusammenschrumpelt.

Oder, wie es Saint-Exupery ausgedrückt hat: »Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.«

Um das zu erreichen, muss ein Autor vor allem zwei Dinge mitbringen:

  1. Vertrauen in sich und
  2. Vertrauen in seine Leser.

Vertrauen in sich als Autor heißt, dass Sie Ihren Worten vertrauen, das mitzuteilen, was Sie mitzuteilen haben – und zwar beim ersten Mal und ohne ausschweifende Erklärungen. Ihr Selbstvertrauen darf und sollte also proportional zu Ihren Fähigkeiten als Autor steigen.

Vertrauen in den Leser heißt nicht, dass der Leser Ihre Aufgabe als Autor erledigt. Sondern dass Sie den Leser respektieren und ihn für intelligent genug halten, den Text zu verstehen und der Geschichte folgen zu können – und auf Ihre ausufernde Erklärungen und Wiederholungen verzichten kann.

Weglassen muss der Autor vor allem vier Dinge:

  1. Wiederholungen (was ich oben schon mal geschrieben, es also hier wiederhole. ABER: Romane sind keine Sach- und erst recht keine Lehrtexte, wo Wiederholungen zum Einprägen sinnvoll sind)
  2. für den Plot Belangloses
  3. alle bis auf unverzichtbare Erklärungen (ohne die die Geschichte Sinn, Wucht, Emotionen, thematischen Bezug verliert) und
  4. Pseudoinhalte (Klischees in Sprache und Inhalt, Abstraktes, heiße Luft)

Wie aber erkennen Sie, was bleiben darf, was weg sollte und was noch hinzugefügt werden muss? Was ist unverzichtbar? Den Leitfaden hierfür geben Dramaturgie, Charaktere, Emotionen der Leser und Thema vor.

Das Wichtigste ist, dass der Roman auf all diesen Ebenen funktioniert. Stellen Sie daher zunächst die positive Frage: Falls eine der Ebenen noch nicht funktioniert – was muss ich hinzufügen, damit sie das tut?

Erst danach stellen Sie sich die negative Frage nach dem Zuviel: Funktioniert meine Geschichte auch dann noch auf all diesen Ebenen, wenn ich etwas Bestimmtes – nehmen wir beispielsweise eine Beschreibung von Omas Strumpfhalter – weglassen? Sie werden erstaunt sein, wie oft Sie diese Frage mit JA beantworten können.

Aber wenn ich all die schönen Beschreibungen und Nebenstränge weglasse, wird mein Roman dann nicht zu öde und kalt?

Nein. Dafür sorgen Ihre Leser. Dazu sind sie da. Denn Leser sind Ihre Co-Autoren.

Fazit und kleiner Trost für Zuviel-Schreiber: Ihr Roman sollte wie ein Best-of- oder Greatest-Hits-Album sein. Keiner der Superhits darf auf dem Album fehlen. Falls Sie aber unbedingt einen neuen Song oder ein obskures, halb vergessenes Lied mit auf das Album packen möchten, wird kaum ein Fan etwas dagegen haben.

Stephan Waldscheidt

 

Mehr Informationen zu Waldscheidts Gutachten zu Plot, Exposé, Anschreiben, Leseprobe:

http://schriftzeit.de/expose-gutachten