In den vorangegangenen Artikeln der Reihe haben wir gesehen, wie Thomas Harris den Charakter Hannibal Lecter in »Das Schweigen der Lämmer« einführt. Er bedient sich dabei einer ganzen Reihe von Instrumenten, führt ihn statisch und mit Informationen ein, tut es dynamisch und mittels Handlung und benutzt Vorbereitungen, um im Leser Neugierde auf den Charakter zu wecken. Die Mischung macht es.
Sehen wir uns abschließend die Einführung eines nicht weniger populären Charakters an: Christian Grey aus »Shades Of Grey«. Selbst wenn Sie den Roman für Schund halten – die Autorin E. L. James muss eine Menge richtig gemacht haben, sonst wäre der Roman kein solches weltweites Phänomen geworden. Wie sie die männliche Hauptfigur einführt, ist schon mal ausgesprochen gekonnt.
Bereits auf der ersten Seite des Romans wird Grey das erste Mal von der Ich-Erzählerin erwähnt:
Ich muss über zweihundertfünfzig Kilometer nach Seattle fahren und mich mit diesem mysteriösen CEO von Grey Enterprises Holdings, Inc. treffen. Für einen Unternehmer und wichtigen Gönner unserer Universität wie ihn ist Zeit kostbar – bedeutend kostbarer als für mich. Dass er Kate einen Interviewtermin gewährt hat, ist ein echter Coup, behauptet sie.
(Buchseite 7 (Romanseite 1) von E.L. JAMES, Shades of Grey – Geheimes Verlangen, Goldmann 2012)
Es folgen eine lange Fahrt, ein beeindruckendes Gebäude, eine umwerfende Empfangsdame … Wie Thomas Harris es bei Hannibal Lecter tut, bereitet auch E. L. James das Kennenlernen ihrer männlichen Hauptfigur lange vor. Es dauert mehrere Seiten, bis die Heldin endlich bis zu Grey vorgedrungen ist. Jede Zeile davon macht den Mann in der Vorstellung des Lesers noch größer und bedeutender.
Dieses Prinzip haben sich Autoren aus der realen Welt abschauen können: Schon die totalitären Herrscher aller Kulturen haben diesen Kniff gerne angewandt. Man musste Wachen passieren, Sicherheitsschleusen und Reihen von Gardisten, endlose Korridore, einen beeindruckenden Thronsaal, bis man endlich vor dem Herrscher stand. Am Ende dieses langen Wegs erschien dann selbst ein Westentaschenkaiser riesengroß.
E. L. James treibt das Spiel noch weiter, als sich die Heldin schon am Ziel wähnt:
Vielleicht besteht Mr. Grey darauf, dass alle seine Angestellten blond sind. Ich denke gerade darüber nach, ob das politisch korrekt ist, als die Bürotür aufgeht und ein groß gewachsener, elegant gekleideter, attraktiver Afroamerikaner mit kurzen Dreadlocks herauskommt.
Die Frage steht im Raum: Ist das Grey? Er ist es nicht, wie sich gleich herausstellt. Doch es dauert noch fast eine weitere Buchseite, bis die Leserin endlich ihren ersten Blick auf Grey werfen darf. Die Autorin bringt eine wichtige Eigenschaft mit: Geduld, mit der sie die Neugier des Leser ausnutzt. Doch das alleine reicht nicht, sonst wären die besten Romane die, die ihre Hauptfigur auf der letzten Seite vorstellen – völliger Unsinn. Wichtig ist, dass auch der Weg bis zur tatsächlichen Vorstellung des Charakters spannend ist, sprich: eskaliert und, wie hier das Auftreten des Mannes in Dreadlocks, sogar Wendepunkte hat.
Wann genau dieser richtige Zeitpunkt in Ihrem Roman kommt, können letztlich nur Sie entscheiden. Sorgen Sie dafür, dass die Dauer sich richtig anfühlt und verzichten Sie auf Gimmicks, die keinen weiteren Sinn haben, als die Sache in die Länge zu ziehen.
Harris und James verzichten auf Gimmicks. Auf dem Weg zum ersten Treffen mit Lecter respektive Grey liefern sie stattdessen wichtige Informationen gerade auch über die Protagonistin.
Und dann, auf Romanseite 6, sehen wir Grey endlich:
Ich drücke die Tür auf, stolpere über meine eigenen Füße und falle hin.
Scheiße! Zwei linke Hände, zwei linke Füße! Ich lande auf Knien in Mr. Greys Büro und spüre sanfte Hände, die mir aufhelfen. Mein Gott, wie peinlich! Ich nehme all meinen Mut zusammen und hebe den Blick. Wow, ist der Mann jung!
»Miss Kavanagh.« Sobald ich wieder auf den Beinen bin, streckt er mir seine langfingrige Hand hin. »Ich bin Christian Grey. Alles in Ordnung? Möchten Sie sich setzen?«
Jung – und attraktiv, sehr attraktiv. Er ist groß, trägt einen eleganten grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte und hat widerspenstiges, kupferfarbenes Haar und wahnsinnig graue Augen, mit denen er mich mustert. Ich brauche einen Moment, um meine Stimme wiederzufinden.
(Haben Sie’s bemerkt? Im Kniefall der Protagonistin deutet die Autorin bereits die sich anbahnende Sadomaso-Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren an.)
Wie Grey dann eingeführt wird, ist jedoch weniger gekonnt: statisch und mit den üblichen Informationen. Sprich: kaum des Erinnerns wert.
Dennoch bedeutet auch dieses letztlich enttäuschende Bild (anders als bei Hannibal Lecter) einen erzählerischen Kniff. Die Autorin hat die Vorstellungen der Leserinnen über Grey ins Überlebensgroße anwachsen lassen – und dann präsentiert sie nur so einen wenig spektakulären und überraschend jungen – Leser wollen überrascht werden! – Hänfling. Dieses Bild aber ist ein Widerspruch und dadurch spannend. Denn sofort versucht die Leserin, ihre Erwartungen und das, was ihr vor Augen geführt wird, in Einklang zu bringen – simple, aber wirkungsvolle Basispsychologie. Die Folge: Die Leserin vermutet, dass in dem Hänfling mehr steckt, als der erste Eindruck offenbart. Und was das ist, will sie natürlich herausfinden. Und liest gespannt weiter.
Bonustrick zur Charaktereinführung:
Zufrieden blicke ich durch den Sonnenschirm aus Seegras auf den blauesten aller Himmel, den sommerblauen, mittelmeerblauen Himmel, Christian auf einem Liegestuhl neben mir. Mein Ehemann – mein sexy, bildschöner Mann, ohne Hemd und in abgeschnittenen Jeans – liest hoch konzentriert ein Buch, das den Zusammenbruch des westlichen Bankensystems prophezeit. Ich habe Christian noch nie so lange am Stück still sitzen sehen. Er wirkt eher wie ein Student, nicht wie der CEO eines der amerikanischen Topunternehmen.
(E. L. James, Shades of Grey – Befreite Lust, Goldmann 2012)
Der dritte Band der »Shades Of Grey«-Reihe fängt sofort mit der Beschreibung Christians an – und sagt damit deutlich, wie wichtig dieser Charakter ist. Hier wird allein die Position im Roman zu einem Indikator für die Bedeutung eines Charakters. Den Widerspruch in Christians Auftreten – Student versus Vorstandsvorsitzender – benutzt die Autorin wie schon im ersten Band auch hier.
Im nächsten und abschließenden Teil unserer Reihe zur Charaktereinführung gehen wir über die eigentliche Einführung hinaus …
Stephan Waldscheidt
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