Gut die Hälfte der E-Books in den Amazon-Top-100 kommen von unabhängigen Autor*innen. Das ist ein echter Erfolg. Was auf den ersten Blick nicht so deutlich ist: einen großen Teil der Top-100-Titel kann man nur bei Amazon kaufen! In den hinteren Rängen sieht es nicht ganz so dramatisch aus: 143 der Top 200, 332 der Top 500, 631 von der Top 1000 oder 1906 der Top 5000 oder 3120 der Top 10.000 sind exklusiv bei diesem Händler im Verkauf.
Warum ist das so – und was bedeutet das für die Schreibenden? Das Zauberwort heißt “KDP Select”, ein Programm von Amazons Selfpublishing-Dienst KDP, bei dem Sie Ihr Werk exklusiv über Amazon anbieten und dafür einige Vorteile genießen. Diese Vorteile sind offenbar für viele KDP-Nutzer*innen so gewichtig, dass sie diesen Deal eingehen.
Exklusivität ist bei Amazon nur einen Mausklick entfernt. Auf der KDP-Website besitzt jeder eBook-Eintrag ein Feld “KDP Select”, das man nur ankreuzen muss. Standardmäßig gilt die Anmeldung für drei Monate. Sie wird um jeweils weitere drei Monate verlängert, wenn man nicht rechtzeitig das Häkchen herausnimmt. Die Anmeldung bei KDP Select hat diese Vorteile:
- E-Book erscheint in der Flatrate KindleUnlimited
- E-Book kommt für Kindle-Deals in Frage*
- E-Book kommt für Prime Reading in Frage*
- Fünf Gratis-Tage pro Quartal
- Werbeaktionen auf Amazon.com (Countdown-Deals, nicht auf Amazon.de)
Die Punkte 4 und 5 sind ja nett, aber sie würden niemanden von KDP Select überzeugen. Entscheidend ist Punkt 1, und auch Punkt 2 ist für viele Nutzer*innen ein Argument.
Mit der E-Book-Flatrate KindleUnlimited (11,75 Euro / Monat) können Leser so viele E-Books ausleihen und lesen, wie sie schaffen, maximal zwanzig gleichzeitig. Sie erhalten dafür einen wechselnden Honoraranteil, der meist etwas unter 1,50 Euro pro komplett gelesenem Buch liegt (Standardumfang eines Romans) und nach der Zahl gelesener Seiten berechnet wird. Wie hoch er genau ist, hängt vom Budget ab, das Amazon im monateweise festlegt. Dieses Budget wird dann durch die Anzahl der gelesenen Seiten weltweit geteilt. Die Auszahlung liegt also unter dem typischen Honorar für ein 2,99-Euro-Buch, aber über dem eines 99-Cent-Titels. Die E-Books, die im Monat auf die meisten gelesenen Seiten kommen, erhalten zusätzlich die sog. AllStar-Boni.
Diese Auszahlungen sind aber nicht die wirkliche Ursache dafür, dass viele Autor*innen sich für Select entscheiden. Jede Ausleihe (die den Lesenden ja nichts kostet) zählt für das Ranking wie ein Verkauf. Wer keine Leihen hat, braucht etwa ein Drittel bis die Hälfte mehr Verkäufe (in manchen Genres auch doppelt so viele), um denselben Rang im Ranking und damit dieselbe Sichtbarkeit zu erreichen. Besserer Rang = mehr Verkäufe = besserer Rang = … Diese Gleichung sieht für Select-Verweigernde wesentlich schlechter aus.
Zudem ist ein KindleUnlimited-Buch auch dann noch sichtbar, wenn es aus der allgemeinen Top 100 längst herausgefallen ist: Amazon führt nämlich eine separate Top 100 der in der Bücherei erhältlichen Titel. Und dort entfällt dann die Konkurrenz aller nicht exklusiven Titel. Außerdem können Leser*innen E-Books, wenn sie denn gefallen haben, nach dem Leihen auch noch kaufen. Sie werden in diesem Fall mehrfach honoriert. Leser*innen hingegen fühlen sich nicht mehrfach abgezockt, weil sie den Leihvorgang als kostenlos empfinden, obwohl sie natürlich monatlich dafür bezahlen. Ich vermute auch, dass sie dadurch eher bereit sind zu experimentieren, also einem Unbekannten eine Chance zu geben – schließlich gehen sie ja kein Risiko ein.
KDP Select lohnt jedoch nicht, wenn es auf das Ranking nicht ankommt. Falls ein Titel sowieso nur irgendwo im Mittelfeld platziert ist, durch sein Thema oder sein Genre ohne Chance auf eine Top-Platzierung, aber doch mit der Möglichkeit solider Verkäufe. Ein solcher Titel würde durch eine ebenfalls durch KDP Select mögliche Verschenkaktion seine nicht ganz so riesige Zielgruppe vielleicht sogar weiter als erwünscht ausschöpfen.
Wie weit schränkt die Exklusivität die Umsätze eines Titels ein? Ein E-Book, das bei KDP Select angemeldet ist, dürfen Sie nirgendwo anders digital anbieten. Natürlich begrenzt das die Verbreitung. Wie weit, das hängt davon ab, welchen Zahlen man glaubt. Nach meinen persönlichen Erfahrungen gehe ich von deutlich über 50 Prozent Marktanteil für Amazon in Deutschland aus. weniger als 50 Prozent der potenziellen Kund*innen bekommen einen KDP-Select-Titel also nicht zu sehen. Zahlen zur KindleUnlimited-Mitgliedschaft in Deutschland gibt es nicht. Ich höre allerdings von vielen, dass die Leihvorgänge bis zur Hälfte der Verkäufe ausmachen – und mehr. Würden die Leiher das Buch auch kaufen, wenn es nicht zu leihen wäre? Niemand kann Ihnen diese Frage beantworten. Ungünstigstenfalls büßt man also beim Ausstieg aus KDP Select mindestens ein Drittel der Umsätze ein, mit der Hoffnung, maximal 50 Prozent zu gewinnen (durch den Abstieg im Ranking dürften die nachfolgenden Verluste bei Amazon sogar größer werden).
Die Frage ist jedoch: Würden diese 50 Prozent Ihr E-Book zu sehen bekommen, läge es bei Kobo, Weltbild, Thalia und Co. im digitalen Schaufenster? Rechnen Sie doch mal nach! Tatsächlich sind Indie-Titel bei allen anderen Anbietern deutlich weniger präsent. Außerdem müssen Sie es in jedem einzelnen Shop mit Ihrer Werbung ganz nach vorn schaffen, nicht nur bei einem einzigen Händler. Als Kompromiss sind manche Autor*innen deshalb inzwischen dazu übergegangen, ihre E-Books zunächst für ein Quartal bei Amazon exklusiv anzubieten und dann über Tolino Media, Bookrix, Neobooks und Co. in die Breite zu gehen. Denn es gibt auch ein gewichtiges Argument gegen die Exklusivität bei Amazon, das nicht ökonomischer Natur ist: Tendenziell dürfte Amazons Marktanteil abnehmen, und im deutschen Offline-Buchhandel ist das US-Unternehmen gar nicht präsent. Wenn Sie langfristig denken, sollte Ihnen daran gelegen sein, eine Fan-Basis aufzubauen, die sich nicht auf einen Anbieter beschränkt. Es gibt Leser*innen, die auf keinen Fall bei Amazon einkaufen wollen. Können Sie diese Kunden auf Dauer ausschließen?
*Man kann neuerdings auch E-Books, die nicht in Select sind, für Deals und Prime Reading vorschlagen.